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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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müssen diesen Mann sofort vorladen«, beschloss er seinen Bericht.
    Chabrand hob die Arme zum Himmel.
    »Was sind denn das für Ammenmärchen! Der hat doch überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Er war doch nicht dabei! Und die neueste von den Geschichten, die er Ihnen erzählt hat, ist mindestens fünfzig Jahre alt! Wahrscheinlich ist er völlig verblödet! Überlegen Sie mal: Er ist dreiundneunzig Jahre alt! Und damit der älteste Einwohner von Digne. Wir werden uns der Lächerlichkeit preisgeben, wenn nicht sogar mit Schande bedecken! Was soll ich Ihrer Meinung nach mit diesem angeblich neuen Hinweis anfangen?«
    »Ein Verbrechen verhindern. Wenn nicht sogar zwei …«
    Aber der Richter blieb bei seiner Meinung. Energisch trommelte er auf der offenen Akte herum, die vor ihm lag und die er gerade abschließen wollte.
    »Im Übrigen«, sagte er, »muss ich Sie darauf hinweisen, dass die Untersuchung ergeben hat, dass Pencenat schuldig ist. Die Aufgabe der Justiz ist damit beendet!«
    »Es sei denn, jemand beweist Ihnen morgen das Gegenteil!«
    »Von mir aus! Morgen! Bis morgen dauert es ja nicht mehr lange. Morgen wird der Neunzigjährige alles erzählen. Und wenn Anlass dazu besteht, werden wir sehen, was zu tun ist!«
    Aber daraus wurde nichts! Niemand brauchte zu überlegen, was zu tun wäre. Morgen! Wie viele Menschen haben dieses Wort schon mit unglaublicher Leichtfertigkeit ausgesprochen, das im Munde eines Menschen besonders vermessen klingt, der schon fast ein Jahrhundert auf dieser Welt zugebracht hat.
    Der November ist der Monat, in dem die Menschen zwischen sechzig und neunzig am dichtesten fallen, wie das Herbstlaub von den Bäumen.
    Am Morgen, der dem Tag folgte, an dem so oft von »morgen« die Rede gewesen war, fand die Pflegerin, die ins Zimmer des Doktor Pardigon eintrat, um die Vorhänge aufzuziehen, diesen zur Wand gedreht in seinem Bett vor, die Decke bis zu den Schultern hochgezogen. Ohne einen Krampf oder ein letztes Aufbäumen hatte er das gefunden, was man nicht ohne Neid einen »schönen Tod« zu nennen pflegt.
    Als Laviolette voller Hoffnung in die Kastanienallee einbog, fuhr ein schwarzer Kastenwagen an ihm vorbei. Es war der Leichenwagen des Bestattungsinstituts, das gerade für den Sarg Maß genommen hatte.
    Es war ein schmerzliches Vergnügen, dem Richter die schlechte Nachricht persönlich zu überbringen. Er war so freundlich, ihn nicht an sein morgen zu erinnern.
    »Auf alle Fälle«, brummte Chabrand, der sich nur zu gut daran erinnerte, »hätte die Justiz nie mit dem Tod Schritt halten können.«
    Die Akte Pencenat lag noch immer auf dem Schreibtisch. Chabrand ergriff die Schnur, die darauf herumlag, schloss die Akte und legte sie in die Schublade, die er mit einem kräftigen Stoß zuschob.
    »Ich glaube«, sagte Laviolette, »diesen Namen können Sie streichen …«
    Die beiden musterten sich mit sorgenvoller Miene.

11
    DER Mann schrieb. Er war in einen karmesinroten Morgenmantel gewickelt, der zum größten Teil nur noch aus fadenscheinigem Gewebe bestand. Ab und zu rutschte er unruhig auf seinem quietschenden Korbsessel hin und her, als sitze er nicht ganz bequem, als habe der Kontakt mit der rauen Sitzfläche seinen Allerwertesten kribbelig gemacht.
    Er schrieb langsam und bedächtig. Hin und wieder ließ er seinen Gedanken freien Lauf und zeichnete eine Zeit lang gedankenverloren Dreiecke auf den Rand seines Heftes. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, eine Sentenz hinzuschreiben, die er früher einmal irgendwo gelesen hatte: Wenn die Dreiecke Götter hätten, würden sie diese mit drei Seiten darstellen. Aber sofort strich er die Worte sorgfältig wieder durch, um sie unlesbar zu machen. Er fürchtete, allein schon die Tatsache, dass er sie aufgeschrieben hatte, könnte eines Tages sein Geheimnis aufdecken, auch wenn die Aufzeichnungen nur für ihn selbst bestimmt waren.
    Manchmal blieb er auch nur mit erhobener Feder sitzen und lauschte dem Toben des Windes, der über das Tal von Barles hinwegfegte.
    Dieser heftige Wind, der vom Blayeul herunterkam und luftige Arabesken über den Strudeln des Bès formte, war nicht dazu angetan, ihn ruhig zu stimmen.
    Der Mann schrieb mit gekrümmtem Rücken und lauschte angespannt, als könne ihm das Toben des Windes zum Verhängnis werden.
    »Wahrscheinlich habe ich in einer dieser Herbstnächte begonnen, in dieses Heft zu schreiben, um die Taten so lange wie möglich hinauszuschieben, zu denen mich dieses Getöse einlädt. Ich

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