Der Mörder mit der schönen Handschrift
den der Großvater Melliflore in dem Teil des Nachlasses entdeckt haben wollte, den ihm sein Bruder schließlich hatte aushändigen lassen.
Mit einem regen Geist lassen sich die sonderbarsten Geschichten weiterspinnen. Wer wollte leugnen, dass ein verlorener Schatz seinen vollen Glanz erst in der Phantasie eines armen Mannes verbreitet?
Nun ja, mangels einer besseren Erklärung konnte ich mir die Dinge auf diese Weise zurechtlegen. Aber niemand wird mich davon abbringen, dass dieser Schatz eine magnetische (oder eine andersartige?) Ladung besaß, die es ihm erlaubte, sich in mein Bewusstsein einzuschleichen, in gewisser Hinsicht nach mir zu rufen … «
»Was für eine sonderbar pathetische Ausdrucksweise«, unterbrach Chabrand mit eisiger Stimme. »Ein äußerst verstiegenes Pathos für einen Volksschullehrer, der doch eigentlich auf der Grundlage von Fakten urteilen sollte.«
»Es handelt sich um einen Mann,« sagte Laviolette, »der sich der Aufgabe unterzogen hat, über etwas zu berichten, das sich einer rationalen Analyse entzieht. Sollten Sie eines Tages in die gleiche Verlegenheit geraten, so werden Sie feststellen, dass man dabei nur tastend vorgehen kann. Soll ich weiterlesen?«
»Ich wollte Sie gerade darum bitten.«
» Ich schrieb soeben, « las Laviolette vor, » dass ich zu der Überzeugung gelangt war, von dem Melliflore abzustammen, der die Meere des Südens befahren hatte. Bei der Durchsicht meiner Familienpapiere (sie befinden sich in der linken Schublade des Büfetts) bin ich in einem Vertrag über den Verkauf eines Hauses in Draix auf den Hinweis gestoßen, dass mein Urgroßvater mütterlicherseits, Hufschmied seines Zeichens, Rogations hieß. Er trug also den Namen, den mir Doktor Pardigon genannt hatte, als er mir von dem Findelkind erzählte, das man den Klarissinnen in Mariaud anvertraut hatte. Da es sich um einen erfundenen Namen handelte, konnte schwerlich ein anderer ebenso heißen.
Bis dahin hatten sich die Melliflores aus Barles damit begnügt, die jüngeren Söhne um ihr Erbe zu bringen, nun brachten sie sie auch noch um ihren Namen. Bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, dass ich persönlich väterlicher-wie mütterlicherseits von Findelkindern abstamme. Und doch war ich ein unmittelbarer Nachkomme der Melliflores aus Barles.
Auf dem beiliegenden Stammbaum, den ich erstellt habe, finden sich alle Geburts-und Sterbedaten, die meine Behauptung lückenlos belegen. «
Nachdem er das alles vorgelesen hatte, schüttelte Laviolette das Heft über dem Tisch aus. Ein Blatt Zeichenpapier fiel heraus; man hatte es vierfach gefaltet, damit es in das Heft passte. Gleichzeitig fiel eine bräunliche Ansichtskarte auf den Tisch. Laviolette nahm sie in die Hand und betrachtete sie lange, dann reichte er sie Chabrand über den Tisch.
»Das werden Sie wohl auch mit einem Auge erkennen können.«
»Ja, das ist ein Mann. Sagen Sie mal, ist das nicht der Tote, den wir in den clues zurückgelassen haben?«
»Nein. Das ist sein Vorbild. Das Foto stammt von 1920. Die Erklärung darunter können Sie wahrscheinlich nicht lesen. Sie lautet: Die malerischen Berufe: der öffentliche Ausrufer von Digne. «
»Der trägt ja die gleiche Trommel wie die, die vor uns liegt«, stellte Chabrand fest.
Laviolette nahm die Karte wieder an sich und drehte sie um. »Ich lese Ihnen vor, was auf der Rückseite steht, mit derselben violetten Tinte geschrieben wie die Aufzeichnungen im Heft: Der einzige öffentliche Ausrufer, den es damals in Digne noch gab, und auch dies nur, weil er seine Dienste zu einem Sonderpreis angeboten hatte, war Gaétan Melliflore. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass er alle fünf Jahre von der Stadtverwaltung eine neue Trommel gestellt bekam und dass er die alten aufbewahrte. Da er diesen Beruf achtzehn Jahre lang ausgeübt hat, muss er auf vier Trommeln gekommen sein. Sie sind sicherlich – wie sein gesamter sonstiger Besitz – gleichmäßig auf seine beiden Töchter verteilt worden, da er kein Testament hinterließ. «
Chabrand schüttelte den Kopf.
»Das bringt kein Licht in die Angelegenheit. Ich habe den Eindruck, dass damit alles noch viel komplizierter wird.«
»Nie werden wir erfahren«, bemerkte Laviolette, »wo er sich diese Postkarte beschafft hat. Aber wenigstens zeigt sie, wie gründlich und systematisch er bei seinen Ermittlungen vorgegangen ist. Soll ich weitermachen?«
Chabrand nickte, ohne zu antworten.
» Ohne eine meiner Marotten « , las Laviolette weiter vor, »
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