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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Lehrer in Barles war, die beiden Bände hier zurückgelassen hat. Warum hat er sie bei seiner Versetzung oder beim Eintritt in den Ruhestand nicht einfach mitgenommen?«
    »Vielleicht ist er gestorben, bevor er daran denken konnte«, meinte Chabrand. »Im Übrigen verstehe ich nicht recht, was diese Frage mit unserem Fall zu tun haben soll.«
    »Von Anfang an habe ich Ihnen gegenüber immer wieder betont, dass nach meiner tiefsten Überzeugung diese ganze Angelegenheit ihre Wurzeln in einer fernen Vergangenheit hat. Nicht umsonst habe ich nach etwas gesucht, das ich ›Bibliotheken der Erinnerung‹ nenne. Und so ist es auch kein reiner Zufall, dass ich auf diesen Doktor Pardigon gestoßen bin.«
    Er blätterte in dem Band, in dem ein peinlich genauer, gewissenhafter Mann alles festgehalten hatte, was ein fleißiger Schüler vielleicht gern über seinen Heimatort gewusst hätte. Er ging langsam Blatt für Blatt durch.
    »Hier finden wir den Keim, aus dem sich alle Verbrechen entwickelt haben, da können Sie Gift darauf nehmen. Wahrscheinlich etwas völlig Unbedeutendes, vielleicht sogar Kindisches …«
    Er blätterte eine Seite nach der anderen um und geriet dabei über die Sorgfalt der Gestaltung in höchste Bewunderung: Die Untertitel waren mit schwarzer, blauer oder violetter Tinte unterstrichen, die Majuskeln am Anfang der Kapitel sorgfältig in Rot ausgeführt. Plötzlich hörte er auf zu blättern.
    »Na sieh mal einer an! Vielleicht doch nicht ganz so kindisch. Lesen Sie selbst.«
    Er schob den geöffneten Band dem Richter hinüber.
    »Ich kann nur auf einem Auge sehen«, jammerte Chabrand, »und das ist keineswegs das Bessere von beiden!«
    »Dann muss ich Ihnen das Wesentliche von allem vorlesen, denn nur in diesem Gewirr von Fakten finden wir den Schlüssel zu allem.«
    »Ich bitte darum.«
    » Eines der charakteristischen Beispiele « , las Laviolette vor, » für den Fortbestand des Erstgeburtsrechts aufgrund stillschweigender Übereinkunft in unseren abgelegenen Alpentälern: die Familie Melliflore. Auf dem so genannten Hundsgifthof hatten die jüngeren Brüder von jeher den Hof zu verlassen, ohne irgendetwas Nennenswertes mitzunehmen. Dieser Brauch, der unter Missachtung der geltenden Gesetze zu einer Art von privatem Recht geworden war, wurde allerdings nicht immer widerstandslos vollzogen.
    Bei der Befragung älterer Bürger dieser Gegend sind wir auf ein Beispiel gestoßen, das hier vorgetragen werden soll: Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, genauer gesagt im Jahr 1860, weigerte sich ein jüngerer Bruder aus der Familie Melliflore, nach dem Tod des Vaters den Hof zu verlassen, und der ältere war genötigt, ihn mit Hilfe von Warnschüssen wegzujagen.
    Dieser Mann begab sich nach Abriès im Département Hautes-Alpes, von wo er mit Schimpf und Schande verjagt wurde, nachdem er ein junges Mädchen verführt hatte. Mir wurde sogar zugetragen, das betreffende Mädchen sei ebenfalls aus dem Dorf gejagt worden, als sie im Begriff stand, mit einem unehelichen Kind niederzukommen.
    Daraufhin schiffte sich der Mann nach Südafrika ein. Und von dort unten schrieb er ständig an seinen Bruder, überhäufte ihn mit Vorwürfen und verfluchte ihn. Er kam dann sogar zurück und ließ nicht locker. Als sein Bruder gestorben war, forderte er sein Erbteil von seinen beiden Neffen ein. Seine Spur verliert sich um das Jahr 1870. Es heißt, er sei zur Fremdenlegion gegangen. Zu jener Zeit ließen sich einige lästige Fälle plötzlichen Verschwindens von Familienangehörigen mit Hilfe dieser Institution elegant aus der Welt schaffen. Die Familien betrieben ihre Aufklärung nicht allzu hartnäckig. Ich habe nie eine bestätigte Nachricht über das weitere Schicksal dieses Mannes in Erfahrung bringen können.
    Diese banale Geschichte habe ich hier trotz ihrer geringen Bedeutung vorgebracht, weil sie als Beispiel dafür dienen kann, wie schwer es die Segnungen der Revolution noch sechzig Jahre später hatten, sich bei uns durchzusetzen. «
    Laviolette schlug den Band geräuschvoll zu.
    »Mehr brauche ich Ihnen nicht vorzulesen, denn das ist die einzige Stelle, die unser zu früh dahingeschiedener Lehrer angestrichen hat. Daraus lässt sich schließen, dass es die einzige Stelle war, die ihn an diesem Bericht interessierte.«
    »Sie haben mir gegenüber diese Geschichte bereits schon einmal erwähnt, damals, als Sie mich gebeten hatten, diesen Doktor Pardigon anzuhören, was ich Ihnen damals glatt abgeschlagen habe.

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