Der Mörder mit der schönen Handschrift
Erinnern Sie sich?« Der Richter stand auf, begann um den Tisch herumzulaufen und rang dabei unwillkürlich die Hände.
»Glauben Sie«, fuhr er fort, »wir hätten diese Morde verhindern können, wenn ich auf Sie gehört hätte?«
Die schlotternde Unterhose brachte seine unwirkliche Magerkeit erst so richtig zur Geltung. Er wirkte feierlich, lächerlich und Mitleid erregend zugleich. Offenbar wurde er von Gewissensbissen gequält.
»Unsinn!«, antwortete Laviolette. »Schlagen Sie sich diese Idee aus dem Kopf. An jenem Abend wäre es unmöglich gewesen, Doktor Pardigon den Fängen der besorgten Pflegerinnen zu entreißen. Sie bewachten ihn wie einen Goldesel. Und am nächsten Tag war er tot. Also …«
»Also dies, also jenes …«, seufzte Chabrand und rieb sich fröstelnd die Hände über dem Küchenherd. »Das ist leicht gesagt.«
Man konnte jedoch sicher sein, dass noch lange Zeit hindurch dieses »hätte ich doch« die schlaflosen Nächte des Richters heimsuchen würde, obwohl er nichts dafür konnte, dass der Tod zu schnell zugeschlagen hatte. Er neigte dazu, bei sich selbst Einkehr zu halten und sich peinlich genau an alle Fehler zu erinnern, die ihm möglicherweise unterlaufen waren. Andererseits hatte er immer noch den rosigen toten Körper dieses Mädchens vor Augen, das er so begehrt hatte. Auch diesen völlig unzweckmäßigen Umgang mit menschlichem Fleisch würde er nicht so schnell vergessen können.
»Setzen Sie sich endlich wieder hin«, brummte Laviolette. »Mir wird schwindlig, wenn ich zu Ihnen hoch schauen muss.«
Er fuchtelte mit dem Schulheft der Marke Le pratique vor Chabrands Augen herum. Mit seinem rosa Einband sah es nach gar nichts aus.
»Wollen Sie nun den eigentlichen Clou der Geschichte erfahren oder nicht? Raten Sie mal, was auf dem Einband steht: Tagebuch eines armen Mannes! «
»Sieht ja gerade so aus, als hätten Sie das draufgeschrieben! Das war doch Ihre Lieblingsbezeichnung für diesen Mörder!«
»Werden Sie nicht ungerecht! Und hören Sie erst mal zu!«
Er trank ein wenig Armagnac, schnalzte mit der Zunge und fing an zu lesen: »Ich heiße Alcide Régulus, und allein daran kann man schon erkennen, dass ich von einem ausgesetzten Kind abstammen muss, denn früher wurden die Neugeborenen, die die Laienschwestern vor den Klostertüren aufsammelten, mit solchen barocken Namen bedacht. Ich wurde in Archail geboren.
Bis zum Sommer des vergangenen Jahres ist mir nie etwas Bemerkenswertes zugestoßen, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Ich war ein bei der Schulbehörde wohl angesehener Volksschullehrer, erfreute mich der Wertschätzung meiner Mitbürger und verbrachte friedliche Tage, in die einige meiner Marotten ein wenig Abwechslung brachten.
Mit einem Schlag geriet mein Leben in Unordnung, und zwar in Folge zweier Ereignisse, von denen das eine letzten Sommer, das andere jedoch vor hundert Jahren, im Jahr 1861, stattgefunden hat.
Letzten Sommer kam ich plötzlich auf die verrückte Idee, die Tapete meines Zimmers zu wechseln, die ich doch fünfzehn Jahre lang, seit meiner Ankunft in Barles, standhaft ertragen hatte. Bei dieser Gelegenheit stieß ich auf einen Wandschrank, der unter den Tapeten, die meine Vorgänger übereinandergeklebt hatten, zum Vorschein kam. Dort fand ich eine von einem gewissen Léon Martin verfasste Ortsbeschreibung von Barles. Unter vielen anderen Dingen berichtete dieser Mann auch über die Familie Melliflore, bei der das Erstgeburtsrecht immer noch praktiziert wurde.
Vermutlich unter dem Einfluss des teuflischen Geheimnisses, das letztlich all unser Tun und Lassen bestimmt, begann ich mich für den jüngeren Bruder zu interessieren, der in Abriès gelebt und dort ein Kind gezeugt hatte, der zu den Antipoden aufgebrochen, in die Heimat zurückgekehrt und schließlich endgültig verschwunden war.
Ich will keine Zeit damit verlieren, in allen Einzelheiten zu berichten, wie ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass dieser Mann mein Ur-Urgroßvater gewesen sein muss, und wie viel Zeit und Mühe ich auf diesen Nachweis verwendet habe. In der Beschreibung des Léon Martin war die Rede von Auskünften, die der Verfasser bei einem gewissen Doktor Pardigon eingeholt hatte. Ich erfuhr, dass dieser Landarzt, obschon hochbetagt, noch unter uns Sterblichen weilte. Letzten Sommer erzählte er mir die Geschichte der Melliflores mit einer schlechterdings unübertrefflichen Ausführlichkeit. Dabei wies er mich auf die Existenz eines Schatzes hin,
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