Der Mörder mit der schönen Handschrift
persönlicher Gegenstand war zu sehen, noch nicht einmal ein Buch. Den größten Platz im Raum nahmen ein solides, aber kunstlos gezimmertes Holzbett ein und ein Spiegelschrank aus der Zeit vor fünfzig Jahren. Auf dem Nachttisch stand ein gerahmtes, altmodisches Frauenporträt. Die abgebildete Frau musste aus einem der Täler dieser Gegend stammen. Sie trug einen Knoten, wirkte gepflegt, aber keineswegs zurechtgemacht. Die Aufnahme war zu einem Zeitpunkt entstanden, als der Schmelz der Jugend noch nicht verflogen war, aber es war bereits zu erkennen, wie schnell sich diese herbe, zurückhaltende Schönheit in eine Kratzbürste verwandeln würde.
Laviolette schaute lange auf das Bild. In dem Gesicht waren, ins Weibliche gewendet, die gleichen Wundmale eines harten Lebens, die gleichen hervortretenden Knochen und die gleiche Schädelform zu erkennen wie auf dem Porträt des Mannes im Pavillon der Villa des Cèdres. Wie er zeigte auch diese Frau den hellsichtigen Blick eines Lebewesens, das weder vom Dasein noch von seinesgleichen etwas Gutes erwartet; einen Blick, der auf das Schlimmste gefasst war.
Das Foto steckte in einem modernen Rahmen, zwischen zwei Glasplatten. Laviolette drehte es um. Auf der Rückseite war in etwas verblasster violetter Tintenschrift zu lesen: Meine Mutter, als ich fünf Jahre alt war.
Augenscheinlich hatte das Zimmer außer dem Porträt mit der Inschrift kein weiteres Zeichen persönlicher Schwäche aufzuweisen. Aber dort hinten, auf der dem Fenster gegenüberliegenden Seite des Raums, befand sich offenbar ein Wandschrank. Die Umrisse zweier Türflügel waren nur mit Mühe im Muster der nicht sonderlich geschmackvollen Tapete zu erkennen.
Laviolette ging darauf zu. In der Tapete befand sich ein Loch. Es war ein einfach in das Papier gedrücktes Schlüsselloch, ebenfalls schwer zu erkennen. Laviolette wählte aus dem Schlüsselbund in seiner Hand den Schlüssel, der ihm zu passen schien. Der Schlüssel drehte sich widerstandslos in dem leichtgängigen Schloss. Die Schranktür öffnete sich mit einem saugenden Geräusch. Der Schrank war fast leer. Obwohl alle vier Fächer sorgfältig mit blauem Einbindepapier ausgelegt waren, befand sich in dreien von ihnen nur eine mit Schweizer Käse bestückte Mausefalle.
Das unterste Fach war voll. Es enthielt zwei abgegriffene Notizbücher, die sichtlich häufig benutzt worden waren; ein billiges Schulheft der weit verbreiteten Marke Le pratique; einen calendrier des postes; zwei große, luxuriöse, in weiches, grünes Buchbinderleder gebundene Bände, die sehr teuer gewesen sein mussten. Der Schrank verströmte gleichzeitig den Geruch von kostbarem Leder und von Kamillentee.
Unter dem Fach, in dem verbleibenden Raum, der bis zum Fußboden hinunterreichte, konnte man undeutlich im Halbdunkel einige Gegenstände erkennen, die man zunächst für bunt bemaltes Kinderspielzeug gehalten hätte.
»Chabrand!«, rief Laviolette. »Schauen Sie sich das mal an!«
Der Richter näherte sich mit schleppendem Schritt.
»Da, sehen Sie das?«
Er zeigte auf den finsteren Grund des Schrankes. Das bunt bemalte Durcheinander dort unten roch nach verschimmelten Lederriemen und versprach nichts Gutes.
»Bei Ritter Blaubart hingen eben so viele Kleider im Schrank, wie er Morde begangen hatte. Hier sind es Trommeln. Aber eines haben sie mit Blaubarts Kleidern gemein: Für jede von ihnen wurde ein Mord verübt.«
»Trommeln?«, rief Chabrand laut aus. »Aber … die sind ja alle aufgeschnitten!«
Laviolette nickte.
»Klar. Kommen Sie!«
Er hatte aus dem untersten Fach alle Dokumente zusammengesucht und knallte sie neben der unbeschädigten Trommel auf die Wachsdecke des Tisches.
Chabrand setzte sich vor den Küchenherd. Er griff nach der Flasche und schenkte sich ein volles Glas ein. Gedankenverloren nippte er daran, und dieses Mal schien es ihm gar nicht einmal so schlecht zu schmecken.
»Jetzt werden wir endlich die Lösung des Rätsels erfahren«, sagte Laviolette und schob Chabrand sein Glas hin, um auch etwas abzubekommen.
Er hielt einen der beiden offensichtlich von Hand gefertigten Registerbände ins Licht der Hängelampe. Auf dem Einband war in elegant geschwungener Schreibschrift zu lesen:
Ortsbeschreibung von Barles
Von Léon Martin, Volksschullehrer
1930
Laviolette hielt dem Richter den Registerband unter die Nase.
»Das fängt schon einmal gut an,« sagte er. »Eines werden wir nämlich nie herauskriegen: Warum dieser Léon Martin, der 1930
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