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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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hat sie deshalb so lange keinen Abnehmer gefunden! – Eine gute Minute schlich sie kopfschüttelnd um ihn herum und gab ein missbilligendes, ›Tsst-tsst-tsst-tsst‹ von sich, dann zog sie ihm schließlich den Brief unter dem Ellenbogen weg, riss ihn bedächtig in vier Stücke und sagte zu ihm: ›Nein, nein, nein und nochmals nein! Du bleibst bei der Post, mein Liebling! Das ist ein sicherer Arbeitsplatz. Und es ist überhaupt nichts Ehrenrühriges, Briefträger zu spielen. Bis zum Tod von Mama – der wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen wird – leben wir vom Laden, und dein Einkommen wird auf mein Konto eingezahlt. Für die Kleine!‹ Während sie ihm das sagte, strich sie sich über den Bauch, der sich schon ein bisschen wölbte, mit zurückgeworfenem Kopf, wie es sich für eine schwangere Frau gehört. ›Die Kleine? Du meinst den Kleinen‹, widerspricht er da, der Melliflore. ›Kein Gedanke! Das wird eine Kleine!‹ Und so war es dann auch.«
    Pardigon spuckte weit aus. Seine Spucke war mit Nikotin versetzt. Er schielte zu Laviolette hinüber, dessen Blick auf den Horizont gerichtet war.
    »Vielleicht interessiert Sie das alles gar nicht? Denn wissen Sie, wenn Sie das nicht interessiert …«
    »Ganz im Gegenteil, es interessiert mich brennend. Ich stelle mir das alles gerade bildlich vor. Die beiden da, die sehe ich vor mir, als wäre ich dabei gewesen!«
    »Wissen Sie, mit diesen Lebensgeschichten – und wie viele davon konnte ich verfolgen! – ist es immer das Gleiche. Wenn die Protagonisten sie einem erzählen, dann enden sie immer auf die eine oder andere Weise mit dem gleichen Bekenntnis: ›Das, was ich Ihnen da erzähle, habe ich tief in meine Tasche weggesteckt und mein Taschentuch darüber gestopft!‹ Nun waren es schon zwei Dinge, die der Melliflore wegstecken musste: ›Finger weg von der Kasse‹ und ›die Kleine‹, wo er doch einen Sohn wollte.
    Kaum zwei Jahre später wurde übrigens eine weitere Tochter geboren. Aber das war wohl ein Unfall. Geizige zeugen selten zwei Kinder, es sei denn, die Natur spielt ihnen einen Streich. Kurzum, von diesen beiden Mädchen hat die eine den Lederwarenhändler Champourcieux und die andere den Mandelhändler Raffin geheiratet. Sie waren die Mütter von Véronique und Ambroisine, den zwei Opfern. Wollen Sie, dass ich von ihnen erzähle?«
    Laviolette antwortete nicht sofort.
    »Nein«, sagte er schließlich. »Erzählen Sie mir weiter vom Großvater. Er war aus Barles. Barles, das interessiert mich.«
    »Wie Sie wünschen! Reden wir also von diesem Gaétan M elliflore. Er wird sich rasch zu einem Gegenstand unserer Anteilnahme entwickeln, denn nun erlebt er eine Enttäuschung nach der anderen. Zuerst muss er eines feststellen: Wenn er schon knickerig ist, dann ist seine Frau ein ausgemachter Geizkragen. Nie lag irgendwo ein Sou herum. Und wenn einmal einer Kundin eine kleine Münze aus dem Geldbeutel fiel, und sie sagte: ›Lassen Sie nur, die ist für den Laufburschen!‹, dann blieb es nicht dabei. Von wegen! Sonntagsabends versuchte Scholastique dann, sie mit einem Lineal aus den Parkettritzen zu fischen, und die zwei oder drei Sous, die sie dann manchmal erwischte, kamen sofort in ihre Kasse. Das ist nur ein Beispiel!
    ›Na und‹, sollte man meinen, ›das müsste die beiden Pfennigfuchser einander doch näher gebracht haben!‹ Nichts da! Der Geiz ist die Leidenschaft der Einsamen! Man kann nicht zu zweit geizig sein. Geizig ist man im Geheimen. Und ein Geheimnis teilt man nicht.
    Und das Schlimmste war noch, dass der Vorname Scholastique stark auf die Trägerin abgefärbt haben musste. Keine Spur von Libido! Bei der Aufführung der ehelichen Tragödie glänzt sie so sehr in der Rolle der resigniert Duldenden, dass man an einen wahrhaftigen Kreuzweg erinnert wird. Dem Melliflore werden dabei die Arme und die restlichen Glieder schlaff. Im Übrigen verliert er schnell an Temperament. Geiz ist nun mal nicht der Boden, auf dem die Liebe gedeiht. Und so segelt denn auch dieses junge Paar auf die Wellen des Lebens hinaus. Viel Glück!«
    Doktor Pardigon spuckte noch einmal kräftig aus. In seiner Spucke war immer mehr Nikotin und immer weniger Speichel.
    »Und sie werden reicher und reicher! Die Kasse leert sich nie! Es ist die Hochsaison für Witwenhüte, die gehen weg wie warme Semmeln. An Witwen herrscht kein Mangel: Der Krieg, die spanische Grippe, die Leberzirrhose nach allzu ausgiebigen Siegesfeiern. Kurzum! Nur Melliflore macht sich

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