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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Melliflore war zur rechten Zeit gekommen. Ich will es kurz machen. Sie hielten sich zum ersten Mal die Hände auf einer Bank, die hinter Hutgestellen versteckt war. Die Mutter war nur zwei Meter entfernt. Danach ging es ständig mit mon amour hier und mon amour da weiter. Er besuchte sie regelmäßig. Er sprang über den Gartenzaun. So was von romantisch …«
    »Die Zedern …«, murmelte Laviolette.
    »Die Zedern?«, wiederholte Pardigon erstaunt. »Ach ja, die Zedern … Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Klar. Ich erzähle Ihnen da eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten, und diese Zedern, die damals Schutz vor Wind und Regen boten, die sind heute nur unwesentlich größer, aber die, die damals darunter herumtollten, sind nun alle tot! Alle!«
    Er seufzte.
    »Ach ja! Hundert Jahre, das ist zu kurz! Man müsste fünfhundert Jahre leben, um alles erfassen zu können! Wenn ich mit hundert Jahren sterbe, wird mir das genau so schwer fallen, wie wenn ich mit vierzig hätte sterben müssen.«
    Er verstummte. Er warf einen pathetischen Blick auf den leuchtenden Herbst.
    »Sie waren bei diesem Zaun stehen geblieben, über den Melliflore immer gesprungen ist …«, sagte Laviolette sanft.
    »Ach! Ja. Die Mutter war ihm gegenüber natürlich etwas steif. Wie sie ihn durch das Monokel ansah, wenn er näher kam! Herablassend, als wäre sie eine Adlige. ›Er hat nichts!‹, sagte sie verächtlich. Dem Mädchen wurde klar, dass sie da ein bisschen nachhelfen musste. Und eines Abends also, bei einem Gewitter, waren sie genötigt, sich in den Gartenpavillon zu flüchten, sie und ihr Melliflore. Sie zog das Unterhemd aus. Natürlich nur, um es zum Trocknen aufzuhängen. Und dann, durchnässt wie sie waren, sie nur noch in ihrem Torselett und den daran befestigten Strümpfen, da überkam sie beide ein teuflisches Jucken. Die Taftrosen auf ihren Strumpfbändern juckten auch … Und dann ihre Schreie, von denen sie wusste, dass das Gewitter sie übertönen würde. Und die Mühe, die sie sich gab, ihn einerseits zu bremsen und andrerseits anzustacheln. Denn … O ja, sie hatte lange genug Zeit gehabt, ihn einzuschätzen, ihren Melliflore. Sie wusste, dass er glatt dazu fähig war, sie mitsamt ihrer Jungfräulichkeit sitzen zu lassen, falls es zu schwierig werden sollte!«
    »Hier«, sagte Laviolette, »scheinen Sie mir die Dinge etwas auszuschmücken.«
    »Ich und ausschmücken?«, rief Pardigon erregt aus. »Ich und ausschmücken?«, wiederholte er zutiefst beleidigt. »Es war der Großvater Melliflore selbst, der mir das erzählt hat, am Sterbebett der Großmutter! Das ist so um die vierzig Jahre her! Wissen Sie, wenn in solchen Familien einmal etwas Schlimmes passiert, und das gilt vor allem für die Männer, wenn die einen in so einer Situation mal kurz beiseite nehmen … Wenn deutlich wird, dass es für die Alte, die den Daumen auf dem Geld hatte, keine Hoffnung mehr gibt … Dann kriegen Sie vielleicht Geschichten zu hören! Mit Einzelheiten, die Sie sich gar nicht ausdenken könnten! Und außerdem: Sie scheinen zu vergessen, dass schon mein Vater all diese Menschen behandelte, und das fünfzig Jahre lang! Seit hundert Jahren herrschen wir über diese Gegend. Hundert Jahre, in denen wir die gleichbleibenden Charakterzüge jedes Einzelnen genau identifiziert haben, über Generationen hinweg! Und da sagen Sie, ich schmücke aus! Ich kenne die Menschen hier so gut, als hätte ich sie selbst erschaffen! Hundert Jahre! Da häuft sich schon etwas an, an Geheimnissen! Hundert Jahre! Hundert Jahre!«, wiederholte er nochmals.
    Er keuchte ein bisschen. Laviolette hatte das Gefühl, als würde ihn das Jahrhundert, das er da runterbetete, mit seiner Wucht erdrücken. Aber der Mann hatte noch Kraftreserven. Er strich wütend mit seinem Stock den Staub von der Bank und erzählte weiter: »Kurzum! Das Mädchen war also schwanger und vertraute sich seiner Mutter an. Und die Mutter schrie und erhob die Hand gegen ihre Tochter. Und die nicht faul: ›Sehr schön! Schrei nur weiter! Bring mich ins Krankenhaus! Wenn du nicht willst, dass sich die Leute darüber das Maul zerreißen, dann ist das genau das richtige Mittel.‹ ›Natürlich will ich nicht, dass sich das rumspricht! Ich will auch nicht, dass es da überhaupt etwas zum Reden gibt. Das ist alles!‹ ›Er wird es wieder gutmachen!‹ ›Wieder gutmachen? Womit? Ein Briefträger, oh Gott! Ein Briefträger! Und noch dazu einer vom Land!‹ Da hätten Sie das Mädchen hören

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