Der Mörder mit der schönen Handschrift
sollen: ›Ich hab genommen, was ich kriegen konnte! Hättest du mich ein bisschen besser hingekriegt, dann hätte auch ich mir was Besseres aussuchen können!‹ Einfach so, direkt ins Gesicht, hat sie das ihrer Mutter serviert! Und die jammerte und rieb sich die Hände: ›Bei dem, was ich besitze! Bei dem, was wir besitzen! Aber warte! Warte mal! Dein Casanova, ist der nicht aus Barles? Sein Vater hatte doch dort ein Haus? Na, dann muss er doch etwas besitzen! In Barles gibt es niemanden, der nichts hat. Wer nichts hatte, ist längst gestorben. Nein, nein! Er muss einfach etwas besitzen, und wenn es nur wenig ist! Warte! Ich, ich werde da jetzt mal hinfahren, nach Barles!‹
Und sie fuhr dorthin. Ihr Korsett war so eng geschnürt, dass sie wohl nur mit Mühe einmal pro Minute schnaufen konnte. Sie trug ein Kleid aus Moiré, das sie um einiges wohlhabender erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Um den Hals hatte sie eine Kette aus massivem Gold, an der ihr Monokel hing. Das sprang auf ihrer breiten Brust auf und ab, die dank des Korsetts den Bauch um einiges überragte. Und dann! Ein Hut, mein lieber Schwan. Da sind sogar die Raben am Wegrand still geworden, als sie den gesehen haben! Nun ja, das alles nach einer Fahrt durch die clues in einer Postkutsche, die gerade mal so zwischen den Felswänden durchpasste. Das sah dann natürlich schon ein bisschen staubig aus. Aber trotzdem, es hatte noch viel Stil.
Kurzum! Sie kommt an, schwitzend und keuchend. Der Bruder erwartet sie mit zugekniffenen Augen. Sie mustert ihn von Kopf bis Fuß durch ihr Monokel. Nebenbei gesagt, er war gerade beim Mistkarren und ließ sich durch einen so geringen Anlass nicht davon abhalten. ›Hören Sie mal!‹, schreit sie ihn an. ›Ihr Bruder, der macht vielleicht Sachen!‹ Und er: ›Entschuldigen Sie mal. Da bringen Sie jetzt aber etwas durcheinander! Ich bin doch nicht mein Bruder!‹
Er brauchte nicht so zu tun, als wüsste er von nichts. Gerüchte verbreiten sich nun einmal wie Lauffeuer. Das war früher nicht anders als heute. Sie kommen einem so selten zu Ohren. Und dann sind sie meist belanglos. Was sind also schon zwanzig Kilometer zwischen Digne und Barles für eine echte Neuigkeit: ›Stellen Sie sich vor, die Tochter von diesen Rosans, die ist schwanger vom Postboten!‹ Die Mutter brauchte sich nicht mit Erklärungen aufzuhalten. ›Natürlich sind Sie das nicht‹, gab sie zurück, ›aber immerhin ist es Ihr Bruder! Und ich, wissen Sie, wer ich bin? Und glauben Sie, dass ich ihn, so mittellos wie er ist, einfach akzeptieren werde, Ihren Bruder? Mit dem Lohn eines Briefträgers? Er wird ja wohl hier etwas besitzen? Ihre Eltern haben doch bestimmt etwas hinterlassen?‹ ›Diesen Hof‹, antwortete der Bruder und deutete mit dem Kinn auf die Gegend um ihn. ›Na, also! Dann hat er ja doch etwas!‹, triumphierte sie. Der Bruder schüttelte den Kopf: ›Nichts hat er‹, sagte er. ›Mir gehört alles, ihm gehört nichts. So ist das!‹ ›Was heißt hier: So ist das? Sie müssen doch teilen! Ihm steht die Hälfte zu! Das Recht des Älteren gibt es nicht mehr!‹ ›Ach, nein?‹, erwiderte er. ›Und wie sieht es mit Gewehren aus, mit denen man richtig schießen kann? Gibt es so etwas vielleicht auch nicht mehr?‹
Ich soll auf der Stelle tot umfallen, wenn ich nicht alles genau wiedergegeben habe, wenn die Unterredung nicht mit dieser albernen Frage geendet hat! Madame Rosans hat später in ganz Digne erzählt: ›Mein Schwiegersohn wurde von seinem Bruder um einen prächtigen Besitz in Barles betrogen!‹ Und innerhalb von zehn Jahren wurde aus dem elenden Bauernhof ein Schloss mit Teich und blumenumsäumten Rasenflächen.
Ja, und dann ist sie ganz geknickt zurückgekommen. Das Gold auf ihrer Brust war matt, ihr Monokel beschlagen, der Hut auf ihrem Kopf hing so schlapp wie Aïoli, die Zugluft abgekriegt hat. ›Er hat nichts! Er hat nichts!‹, schrie sie. ›Missratene Tochter! Macht mir ein Kind mit einem Hungerleider!‹ ›Er hat schließlich seine Hände!‹, gab die Tochter patzig zurück.
Aber die Mutter war eine Frau, die schnell begriff, und wusste, was zu tun war. Kaum hatte sie sich ein bisschen erholt, bestellte sie den Postboten zu sich und nahm ihn ins Gebet: ›So! Sie werden sich jetzt wie ein Mann verhalten. Sie werden nach Barles gehen und mit Ihrem Bruder reden. Das Recht des Älteren gibt es nicht mehr. Er muss Ihnen Ihren Teil abtreten!‹ ›Es gibt zwei Möglichkeiten‹, sagte sie
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