Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
wagte sich den Schock beim Anblick des eigenen Totenscheins kaum auszumalen. «Was hat er gesagt?»
«Er verlangte Antworten von mir, die ich ihm nicht geben konnte. Nicht geben wollte. Ich hätte keine überzeugenden Lügen gewusst. Und so hab ich einfach gemauert. Ihn beschuldigt, herumzuschnüffeln, sich in Dinge einzumischen, die er nicht verstünde, und die falschen Schlüsse daraus zu ziehen. Er sagte nur, dann sollte ich es ihm eben so erklären, dass er es verstehen könnte. Aber ich habe mich geweigert, weiter darüber zu diskutieren, und ihn auf sein Zimmer geschickt.» Ihre Züge wirkten jetzt müde und resigniert. «An diesem Abend habe ich nicht gewagt, noch einmal mit ihm zu sprechen, und als ich am nächsten Morgen in sein Zimmer kam, um ihn zu wecken, war er auf und davon. Hatte kaum etwas mitgenommen. Nur ein paar Kleidungsstücke. Das Fenster stand offen, vermutlich ist er in den Garten gesprungen.»
«Und Sie haben keine Vermisstenanzeige gestellt?»
«Wie denn? Jede Ermittlung hätte nur die Wahrheit ans Licht gebracht, erst recht, wenn sie ihn gefunden hätten. Nein, Mister Mackay, er war weg, und ich hatte mich damit abzufinden. Ich war eben wieder allein, offensichtlich mein Schicksal. Ich unterrichtete die Schule, er sei wieder nach England zurückgegangen, und damit war die Sache für mich abgeschlossen.» Sie sah Enzo mit traurigen blassen Augen an. «Sie zeigen mich bei der Polizei an, nicht wahr?»
«Sie haben eine Straftat begangen, Mrs. Archangel. Das mag lange her sein, aber Sie haben nach wie vor eine Schuld zu begleichen, vor allem gegenüber seiner Mutter. Sie ist übrigens immer noch da. In Cadaqués. All die Jahre. Sie wartet immer noch auf die Rückkehr ihres Sohnes.»
Die alte Dame presste die Lippen zusammen, um ihre Gefühle zu beherrschen. Von diesen Dingen hatte sie nie etwas hören wollen, jeden Gedanken daran verdrängt. «Und Richard? Was ist aus ihm geworden?»
Enzos Ton war kalt und sachlich. «Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, Menschen zu ermorden, Mrs. Archangel. Er ist ein Profikiller.»
Für einen Moment stand ihr der blanke Schock ins Gesicht geschrieben, ein heftiger innerer Aufruhr. Entsetzen, Angst und Abscheu. Doch dann war es vorbei, und er sah nur Resignation, als fügte sie sich stumm in die Erkenntnis, dass sie ein Monster großgezogen und es vielleicht von Anfang an geahnt hatte.
«Möglicherweise lebt er unter dem Namen William Bright», sagte Enzo. «Sein Familienname. William ist sein Bruder.»
Sie sah auf. «Demnach hat er sie gefunden?»
«Offensichtlich ja.»
«Und wissen sie … weiß es seine Familie?»
«Seit kurzem.»
Sie schloss die Lider. Die Lüge, mit der sie jahrzehntelang gelebt hatte, war vorbei. Gott allein wusste, was die Zukunft bereithielt. Als sie wieder zu ihm aufsah, standen ihr Tränen in den Augen. Vor Selbstmitleid.
«Haben Sie, nachdem er weggelaufen ist, je wieder von ihm gehört?», fragte Enzo.
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, nie.» Dann entsann sie sich wohl an etwas, das lange zurücklag, und korrigierte sich. «Das heißt, ein Mal. Ich bin sicher, dass sie von ihm war, auch wenn sein Name nicht draufstand.»
«Ich kann Ihnen nicht folgen.»
«Warten Sie.» Mit steifen Gliedern erhob sie sich aus dem Sessel und ging zur Anrichte hinüber. Einige Minuten lang wühlte sie in einer Schublade und kramte in einem Schnellhefter mit Papieren, bevor sie mit einer Ansichtskarte wiederkam. Enzo sah, dass darauf ein farbenfroher Sonnenuntergang abgebildet war, rot glühendes Licht über blauen Bergen. «Die kam ein paar Monate nach seinem Verschwinden.» Sie setzte sich eine Lesebrille auf und betrachtete die Karte. «Vom 26. Dezember 1986.» Verärgert fuhr sie mit der Hand durch die Luft. «Da steht nichts weiter als Au revoir . Aber es ist seine Handschrift. Die würde ich überall wiedererkennen.» Sie sah sich die Karte noch einmal an. «Aber das Merkwürdigste daran …»
«Was denn?»
«Er hat unterschrieben mit Yves .» Sie sah zu ihm auf. «Was soll das?»
«Vielleicht trug er am 26. Dezember 1986 diesen Namen.» Er streckte die Hand nach der Karte aus, und sie gab sie ihm. Der Poststempel war noch deutlich zu erkennen und verriet, dass die Karte aus einem Ort namens Aubagne verschickt worden war.
Kapitel sechsundvierzig
Yves sah von der Rue St. Sébastien aus zu, wie Mackay das Haus verließ. Der große Schotte mit dem Pferdeschwanz überquerte den Parkplatz und verschwand die Treppe
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