Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
jemand mit der flachen Hand geschlagen. Ein kleiner Stich der Angst durchfuhr ihn wie die Klinge, mit der ihm der Reifen zerstochen worden war. Er nickte nur stumm.
Der Mechaniker sah ihn mit einem vielsagenden Blick an, dann faltete er den Scheck und steckte ihn in die Tasche. «Bonne journée, monsieur.» Und er war verschwunden. Zum zweiten Mal hallten in Enzos Erinnerung Raffins Worte nach: Er ist nur einen Steinwurf entfernt. Das spüre ich. Er sah durchs Fenster und ließ den Blick über den Platz gegenüber wandern, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht unter den Bewohnern von Collioure, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen. Doch sie waren ihm alle fremd. Der wuchtige Bau des Château Royal erhob sich dunkel vor dem grauen Himmel, und in der Bucht dahinter legte sich ein Segelboot in den Wind und ließ gerade die Hafenmauer hinter sich. Er schrak zusammen, als das Chatprogramm auf seinem Computer klingelte.
Nicoles Gesicht erschien wieder. «Aubagne liegt in der Provence», sagte sie. «Irgendwo zwischen Aix und Marseille. Im Departement Bouches-du-Rhône. Es ist nicht besonders groß. Etwa vierzigtausend Einwohner. Auch sonst ein unauffälliges Kaff. Nur für eins ist es wirklich bekannt: Da ist die Fremdenlegion stationiert.»
«Mein Gott», sagte Enzo, als ihm klar wurde, was Nicole da gerade sagte. «Da ist er also hingegangen.»
«Meinen Sie? Warten Sie einen Moment …» Er hörte, wie sie auf der Tastatur klapperte. Dann schwieg sie eine Minute lang, und er sah, wie sie auf dem Computer nach etwas suchte. «Also, das würde passen. Offenbar ist es bei Ausländern sehr beliebt, sich zur Fremdenlegion zu melden, wenn sie ihre Identität wechseln wollen. Franzosen sind nicht zugelassen. Falls sie es doch versuchen wollen, müssen sie es schaffen, als Ausländer durchzugehen, zum Beispiel als Frankokanadier oder Schweizer. Sobald sie eingerückt sind, bekommen sie eine neue Identität.»
Kein Problem für Bright, wie Enzo wusste, denn er hatte ja schon vorher ein maßgeschneidertes Alias besessen – das seines Bruders William. Eines Briten.
Weiteres heftiges Klappern auf Nicoles Tastatur. «Offenbar müssen sie sich für mindestens fünf Jahre verpflichten, aber schon nach drei Jahren dürfen sie die französische Staatsbürgerschaft annehmen.»
Enzo lehnte sich zurück. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Bright hatte praktisch seine ganze Vorgeschichte getilgt und eine völlig neue Identität angenommen. Nachdem er sich vorübergehend als sein Bruder ausgegeben hatte, war er dank der Fremdenlegion wieder zum Franzosen geworden, nunmehr unter völlig neuem Namen. Nach Ablauf von fünf Jahren war er mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren wieder in die normale Gesellschaft zurückgekehrt – als ein anderer Mensch, der alles, was ihn mit der Vergangenheit verband, hinter sich gelassen hatte. Trainiert, erfahren, aufs Töten spezialisiert.
«Danke, Nicole. Sie hören wieder von mir.» Er beendete die Verbindung. Das geduldig ausgeklügelte, fein gesponnene Tarnnetz, mit dem Rickie Bright sämtliche Spuren verdeckt zu haben glaubte, löste sich gerade in nichts auf. Enzo kannte den Vornamen seiner neuen Identität: Yves. Jetzt musste er nur noch den Nachnamen in Erfahrung bringen.
Er griff in seine Brieftasche und zog eine etwas abgewetzte Visitenkarte heraus. Er strich sie zwischen Daumen und Zeigefinger glatt und spürte, als er darauf starrte, wie in ihm erneut das Gefühl aufwallte, verraten worden zu sein. Aber vielleicht konnte sich sein alter Freund Simon jetzt doch noch als nützlich erweisen.
Er steckte die Karte in die Tasche und rief auf seinem Laptop Google auf. Dort suchte er nach Mappy, dem französischen Online-Routenplaner, und gab als Startort Collioure , als Zielort Aubagne ein. Die Reiseroute und die Anweisungen, die das System anzeigte, waren simpel. Fast die ganze Strecke im äußersten Süden Frankreichs Richtung Osten führte über die Autobahn. Keine vier Stunden Fahrt. Er sah auf die Uhr. Falls er sofort aufbrach, konnte er es bis zum Spätnachmittag schaffen.
Er fuhr seinen Laptop herunter und klappte ihn zu, bevor er ein paar Münzen neben seiner Kaffeetasse hinterlegte. Während er sich erhob, blickte er aus dem Fenster. Rickie Bright stand vor dem Hôtel Frégate auf der anderen Straßenseite und sah ihm zu.
Kapitel achtundvierzig
Bis er seinen Laptop in der Tasche verstaut und das Café verlassen hatte, war Bright verschwunden. Mit
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