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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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hinunter in der Rue du Mirador. Doch Yves blieb, wo er war. Er wusste, dass er nicht Gefahr lief, ihn aus den Augen zu verlieren, weshalb er sich etwas bittersüße Nostalgie gönnen konnte.
    Er trat aus dem Schatten der Bäume und lief langsam über den Asphalt zu dem Haus hinüber, in dem er aufgewachsen war. Es hatte sich nicht viel verändert. Alles war gewachsen. Die Fensterläden hatten einen neuen Anstrich. Auf der obersten Treppenstufe blickte er auf das kleine Tor hinab, durch das er vor so vielen Jahren die Flucht ergriffen hatte. Er sah das Fenster zu seinem Zimmer und spürte einen Stich, den er sich nicht erklären konnte – vielleicht Bedauern. Das Meer dahinter war so wie immer. So wie er selbst. Launisch, wechselhaft. Er lauschte auf den gleichmäßigen Atem in der Tiefe, das vertraute Geräusch seiner Kindheit. Er roch den salzigen Duft. Sog ihn tief ein.
    Am Eingang zur Häuserzeile entdeckte er ein neues Schild. Sackgasse. Das war die Straße schon immer gewesen, genau wie das Leben, das er darin gefristet hatte. An der Mauer daneben hing der gerahmte Druck eines Gemäldes, das jemand von den kleinen Häusern angefertigt hatte. Leuchtende mediterrane Farben, Flecken aus Sonnenlicht an den Hängen der Landzunge gegenüber.
    Einige Minuten lang stand er einfach nur da und lauschte. Er konnte kaum glauben, dass er tatsächlich Angst empfand. Angst davor, die Frau wiederzusehen, die ihm das Leben gestohlen hatte. Angst davor, ihre Stimme zu hören. Doch es war still im Haus. Keine Stimmen, keine Schritte im Flur. Er trat auf die Terrasse und sah den kleinen Nähmaschinentisch, an dem er immer seine Hausaufgaben hatte machen müssen. Den Klappstuhl, auf dem er so oft gesessen hatte. Das Metall war jetzt passend zu den Fensterläden blau gestrichen. Zu seiner Zeit war beides grün gewesen.
    Sie war da, irgendwo hinter der Tür. Sie musste zu Hause sein. Er hatte gesehen, wie Mackay hineingegangen und über eine Stunde geblieben war. Zweifellos wusste er jetzt noch mehr über den jungen Richard Archangel und seine Geschichte, sowohl die in Cadaqués als auch die in Collioure. Yves hatte völlig versagt und ihn bis jetzt nicht aufhalten können. Mackay hätte längst tot sein müssen. Nur mit unglaublichem Glück hatte er in Paris überlebt. Und nun war er bis hierher vorgedrungen, wühlte immer noch in dem alten Mist und förderte dabei Yves’ ganze Vergangenheit zutage.
    Er versuchte, ruhig und langsam durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Wut war keine Lösung. Um den Schotten zu töten, musste er eiskalt berechnend vorgehen. Und dass er ihn töten würde, stand fest.
    Irgendwo im Haus hörte er das Klirren von zerbrechendem Glas. Er horchte angespannt, doch danach blieb es still. Sein Herz schlug so heftig und schnell gegen die Rippen wie ein Boxer beim Training. Links, rechts-rechts, links, rechts. Fäuste in Lederhandschuhen, die auf einen Punchingball einprügeln.
    Er hatte keine Ahnung, was ihn dazu brachte – war es eine morbide Faszination? Ein seltsames Bedürfnis, wieder in den Mutterschoß zurückzukehren, egal, wie unglücklich er dort gewesen war? Er griff nach der Klinke und öffnete sachte die Tür, begab sich in die Dunkelheit der Eingangsdiele. Ihm schlug ein Geruch entgegen, der ihn augenblicklich in die Vergangenheit zurückkatapultierte und für einen Moment völlig aus der Fassung brachte. Er streckte die Hand aus, um sich an der Wand festzuhalten. Wie ein Gespenst fühlte er sich, das eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit macht, und rechnete jeden Moment damit, sich an der Tür seines Zimmers zu sehen und zu verfolgen, wie er die Treppe zur Terrasse hinunterlief, auf der er stundenlang gelesen, geträumt und geweint und übers Meer gestarrt hatte.
    Es herrschte Totenstille. Im Wohnzimmer schien niemand zu sein. Er ging hinein und erschrak, als ihm von jeder Kommode, von jeder Wand sein eigenes Gesicht entgegenblickte. Das Zimmer wirkte wie eine Andachtsstätte, ein Altar, an dem sie für den Jungen betete, der er einmal gewesen war. Oder auch für ihre Wunschvorstellung von diesem Jungen. Er trat ans Fenster und blickte auf die Terrasse hinunter. Niemand da. Dann ging er zur Tür seines Kinderzimmers und blieb davor stehen. Er zögerte einen kurzen Moment und merkte, wie es ihm vor Angst die Kehle zuschnürte. Wollte er wirklich diese Tür zu seiner Vergangenheit aufstoßen? Er drückte auf die Klinke, und die Tür schwang auf. Sofort sah er sich zweiundzwanzig Jahre

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