Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
zurückversetzt. Seine sämtlichen Poster hingen noch, wenn auch inzwischen verblasst und mit eingerollten Ecken, an der Wand. In der Nische lehnte seine Gitarre, mit einer gerissenen Saite. Das Bett war gemacht, mit derselben Tagesdecke wie an dem Abend, als er sich davongestohlen hatte.
Es war mehr, als er verkraften konnte, und so zog er die Tür hastig wieder zu.
Wo steckte sie? Er hatte das Haus die ganze Zeit im Blick gehabt. Sie konnte nicht hinausgegangen sein, es sei denn, sie wäre irgendwie durch den Torbogen auf den Weg darunter geschlichen und er hätte es nicht bemerkt.
Er hörte ein leises Geräusch und horchte angestrengt. Zuerst konnte er nicht sagen, was es war, doch dann hörte er es wieder. Ein Tröpfeln. Wasser, das in Wasser tropft. Es kam aus dem Badezimmer. Mit lautlosen Schritten schlich er den Flur entlang zur Badezimmertür. Sie war nicht ganz zugezogen. Mit einer Hand, die alles andere als ruhig war, schob er sie auf.
Sie lag nackt in der Badewanne. Eine fremde, geschrumpfte, weißhaarige alte Frau. Fast schien sie zu schweben. Die Arme hatte sie, mit den Handflächen nach oben, seitlich am Körper ausgestreckt, und aus dunklen Schnittwunden in ihren Handgelenken pulsierte hellrotes Blut. Er senkte den Blick und sah blutverschmierte Spiegelscherben auf dem Boden.
Sie war noch am Leben. Mit weit geöffneten, hellblauen Augen blickte sie ihn wachsam an. Für eine Sekunde flackerte darin ein Gefühl auf, wie ein Streichholz, dessen Phosphorkopf hell aufflammt und gleich wieder verlischt. Er stand auf der Schwelle und sah zu, wie ihre Augen glasig wurden und das Licht darin verglomm. Als ihr Herz kein Blut mehr ins Wasser pumpte, wusste er, dass sie tot war.
Kapitel siebenundvierzig
Von seinem Platz am Fenster des Café Sola aus hatte Enzo einen freien Blick über die Straße bis zum Marktplatz, wo der Pannendienst-Transporter der Werkstatt neben seinem Mietwagen stand. Ein Mechaniker in blauem Overall hob und senkte den Hebel des pneumatischen Wagenhebers so lange, bis er Enzos Auto hinten rechts genügend angehoben hatte. Im Kofferraum hatte Enzo nur ein Notrad vorgefunden, und so wäre es sinnlos gewesen, den Reifen mit dem Platten selbst zu wechseln. Die Werkstatt hatte einen Mann geschickt, der das Rad abmontiert und mitgenommen hatte, und jetzt war er mit einem neuen Reifen zurück.
Enzo konzentrierte sich wieder auf seinen Laptop und hörte es klingeln, während er darauf wartete, dass Nicole den Anruf annahm. Sein eigenes Bild von der eingebauten Webcam blickte ihm aus einem geöffneten Fenster auf dem Bildschirm entgegen. Dann hörte das Klingeln auf, und während sein Kopf in der oberen Ecke auf Briefmarkengröße schrumpfte, erschien Nicoles lächelndes Gesicht.
«Monsieur Mackay, wo stecken Sie?»
«Immer noch in Collioure.»
«Haben Sie mit ihr geredet?»
«Ja.»
«Und?»
«Das erzähle ich Ihnen alles später, Nicole. Im Moment brauche ich erst mal wieder Ihre Hilfe.»
«Nur zu.»
Eigentlich ging es um etwas, das er genauso gut selbst hätte erledigen können, doch er hatte noch andere Gründe für den Skype-Anruf. «Wie geht’s Kirsty?»
Nicole zuckte die Achseln. Falls sie bei der Frage verlegen wurde, überspielte sie es gut. «Na ja. Zumindest redet sie wieder mit uns. Offenbar ist Roger inzwischen stabil. Wie’s aussieht, kommt er durch.»
Enzo ertappte sich dabei, wie er die Nachricht mit eher gemischten Gefühlen aufnahm. Doch er sagte nur: «Gut», und fügte hinzu: «Nicole, ich wollte Sie bitten, einen Ort namens Aubagne zu recherchieren. Haben Sie den Namen schon mal gehört?»
Sie schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, wo das ist?»
«Keine Ahnung.»
«Okay. Ich such’s im Internet raus und melde mich zurück.»
Als er die Verbindung beendete, kam der Mechaniker im Overall herein. Er setzte sich auf den Platz ihm gegenüber. «Alles erledigt, Monsieur Mackay.» Mit verschrammten, ölverschmierten Fingern, an denen die Nägel brüchig und schwarz gerändert waren, schrieb er eine Rechnung und riss das Original für Enzo ab. «Einhundertzwanzig Euro.»
Enzo stellte einen Scheck aus, den der Mechaniker nahm und kurz begutachtete, bevor er aufstand. Plötzlich zögerte er und kratzte sich unter dem dicken, drahtigen Haar am Kopf. «Das war kein Zufall, Monsieur.»
Enzo sah ihn verständnislos an. «Wie meinen Sie das?»
«Dieser Platten. Jemand hat mit einem Messer in die Reifenwand gestochen.»
Enzo brannte das Gesicht, als hätte ihn gerade
Weitere Kostenlose Bücher