Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Truhe seiner Mutter, gefüllt mit einem Schatz an Familienandenken, die Überbleibsel eines Lebens, von dem er nichts wusste.
Sein Vater war tot, so viel hatte sie ihm erzählt. Von Großeltern oder Geschwistern, Cousinen und Cousins, Tanten und Onkeln war nie die Rede gewesen. Nun jedoch hatte er plötzlich Fotos von Menschen vor sich, die ihm vollkommen fremd waren, Familienalben mit körnigen Schwarzweißfotos, englischen Verwandtschaftsbezeichnungen und Namen in altmodischer Schrift und verblasster Tinte. Grandfather Peglar, Granny Topps, Aunt Hylda, Selena und Frank. Richard blickte in unbekannte Gesichter, die ihm aus einer längst vergessenen Vergangenheit entgegenstarrten.
Natürlich wusste er, dass seine Mutter aus England stammte. Zu Hause, wenn sie miteinander sprachen, duldete sie keine andere Sprache. Trotzdem war er nie auf die Idee gekommen, dass es in England noch Angehörige geben könnte. Allerdings stammten die Bilder in dem Album aus einer viel früheren Zeit, und zumindest diese Leute waren längst tot.
Er stöberte weiter in der Kiste und fand einen Stapel Farbfotografien, die aussahen, als seien sie aufgenommen worden, als er schon geboren war. Er betrachtete das oberste Bild und sah, dass beim Entwickeln das Datum am unteren Rand in roter Farbe einbelichtet worden war: 23/07/70 .
Er kramte in den Fotos. Landschaftsaufnahmen von einer Bucht, hinter der sich weiße, mediterrane Häuser an einen steilen Hügel schmiegten, auf dessen Kuppe eine große Kirche inmitten dichtgedrängter Dächer mit roten Terrakottaziegeln thronte. Geschäfte an einer Strandpromenade. Plakate auf Spanisch, die für eine örtliche Corrida warben. Das hier war Spanien.
Dann eine Familie an einem Strand. Eine Mutter und ein Vater mit drei Kindern. Sie posierten für ein Foto, lächelten in die Kamera. Aber nicht für die, mit der dieser Schnappschuss aufgenommen worden war. Irgendwo rechts hinter der Kamera gab es einen zweiten, unsichtbaren Fotografen. Auf dem Bild waren zwei Jungen und ein Mädchen zu sehen. Die Jungen waren noch ganz klein, das Mädchen vielleicht fünf. Einer der Jungen hatte den Kopf zum eigentlichen Fotografen gewandt, der andere blickte direkt in das Objektiv, das dieses Bild in den Fokus genommen hatte. Er sah Richard direkt ins Gesicht.
Wäre es möglich gewesen, dass einem das Herz stillstand und man trotzdem weiterlebte, hätte Richard gesagt, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Denn es gab nicht den geringsten Zweifel: Dieser Junge war er selbst. Und so seltsam es ihm vorkam, er bildete sich ein, er könne sich irgendwie an diesen Moment erinnern.
Doch am merkwürdigsten schien ihm, dass er keinen dieser anderen Menschen wiedererkannte.
Er blätterte rasch die restlichen Fotos durch, doch von der Gruppe am Strand gab es nur dieses eine.
Er war verwirrt. Was waren das für Leute? Seine Mutter hatte ihm nie von einem Spanienurlaub erzählt. Er legte die Fotos beiseite, grub tiefer in der Truhe und stieß auf eine abgegriffene Ledermappe. Er öffnete sie und fand darin einen Stapel vergilbter Familiendokumente und standesamtlicher Unterlagen. Die Geburtsurkunde seiner Mutter: Selina Anne Peglar, geb. 19. Mai 1939 . Eine Heiratsurkunde zur Eheschließung mit seinem Vater Reginald Archangel vom 9. September 1964. Dann der Totenschein – sein Vater war ein halbes Jahr vor der Geburt seines Sohnes im September 1968 gestorben. Darunter steckte seine eigene Geburtsurkunde. 20. September. Der Beruf seines Vaters war darauf schlicht mit «Lehrer» angegeben. Einen Moment lang überlegte er, was er wohl für ein Mensch gewesen war, doch dann schob er den Gedanken beiseite. Das machte nun auch keinen Unterschied mehr.
Schließlich zog er die letzte Urkunde aus ihrer Plastikhülle, und von einer Sekunde zur anderen stürzte alles, was er bis dahin über sich gewusst hatte, haltlos in sich zusammen. In seinen zitternden Händen hielt er den Totenschein eines achtzehn Monate alten Jungen, der am 18. März 1970 an Herzversagen gestorben war. Der Junge hieß Richard Archangel.
Es war sein eigener Totenschein.
Kapitel sechzehn
Cahors, November 2008
Die tiefe, regenfeuchte Wolkendecke über Cahors hatte sich nach mehreren Tagen endlich verzogen. Am strahlend blauen Himmel stand tief die Wintersonne und ließ die trostlose Novembernässe verdunsten. Die Luft war eisig kalt und frisch.
Enzo sah Sonnenlicht durch den Spalt rings um die fest verschlossenen Läden der Gitterfenster vom
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