Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
wurde. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg, sodass sie nicht einmal protestieren konnte.
Hinter sich hörte sie Raffin, der wütend schimpfte: «Was fällt Ihnen ein! Ich bin Journalist!»
Und eine andere Stimme, die angespannt entgegnete: «Dann verraten Sie uns vielleicht, wieso Sie einen Mörder in Ihrem Wagen haben?»
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Teil zwei
Kapitel fünfzehn
Südfrankreich, Juni 1986
Richard erinnerte sich an den Ort mit gemischten Gefühlen. Die Schule hatte er gehasst. Damals war sie noch in der Rue de la Démocratie gewesen, gegenüber dem boulodrome und dem Strand, und am anderen Ufer der Bucht sah man die Église Notre Dame des Anges mit ihrem markanten byzantinischen Glockenturm. Stets hatte es sich irgendwie unnatürlich angefühlt, die Weite des blauen Mittelmeers durchs Fenster zu sehen und gleichzeitig in einem Klassenzimmer eingepfercht zu sein.
Wenn es am Meer nicht zu stürmisch war, lief er an schönen Tagen unter dem hohen Gemäuer des Château Royal den Kai entlang bis zum Quai de l’Amirauté, an dem gelb und blau gestrichene Segelboote mit schrägen, sich kreuzenden Masten im Rhythmus der Wellen aneinanderstießen, knarrten und ächzten. Eine Szenerie, die der Maler André Derain berühmt gemacht hatte.
Er lehnte sich dann ans Geländer und sah den Kommandotruppen beim Training zu: wie sie scharenweise aus dem Château gerannt kamen und in voller Montur in Schlauchbooten auf die Bucht hinausfuhren. Manchmal wurden sie bis hinter die Mole gebracht und dort über Bord geworfen, sodass sie sich aus eigener Kraft wieder an Land kämpfen mussten.
Da sein Haus in der Rue Bellevue fast direkt unter dem Fort Miradou lag, war er mit dem Anblick von Soldaten auf der Straße aufgewachsen. Er hatte stets ihre Haltung bewundert, ihren kurzen Haarschnitt, die Khaki-Uniform über blank polierten schwarzen Stiefeln. Vielleicht war hier die erste Saat für seine späteren Ambitionen gelegt worden.
Die Rue Bellevue, die oberhalb der Altstadt an den Klippen entlangführte, trug ihren Namen zu Recht. Er wohnte mit seiner Mutter im letzten Haus in einer Reihe von Bruchsteinhäusern am Ende der Straße. Ihr kleines Zuhause trotzte Sturm und Regen. Wenn die Sonne schien, saß er stundenlang auf den Felsen am Rand des Gartens und beobachtete, wie sich das Meer an den Klippen darunter brach.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen er in der Schule regelmäßig schikaniert worden war. Bis er dem schlimmsten Rüpel einen Bleistift ins Auge stieß, sodass dieser beinahe das Augenlicht verlor. Von da an war ihm niemand mehr zu nahe gekommen.
Für die Beziehung zu seiner Mutter war dieser Vorfall allerdings der Anfang vom Ende gewesen. Liebe hatte es zwischen ihnen nie gegeben. Ihre Bemutterung nahm unerträgliche Ausmaße an, die ständige, im Grunde egoistische Fürsorge nahm ihm die Luft zum Atmen. Die Folge war, dass er ein rebellischer und streitsüchtiger Teenager wurde. Doch schließlich war sie es, die ihrer Beziehung den Todesstoß versetzte, indem sie seinen Hund einschläfern ließ. Sie hatte darauf bestanden, nachdem Richard eine so heftige allergische Reaktion erlitten hatte, dass er nur knapp mit dem Leben davongekommen war.
Dabei war die Sache ein Rätsel. Seit seine Mutter den Hund fünf Jahre zuvor als Welpen nach Hause gebracht hatte, waren Domi und Richard unzertrennliche Freunde. In all den Jahren hatte Richard kein einziges Mal allergisch auf ihn reagiert. Und der Arzt hatte gesagt, so gut wie alles könne eine Allergie auslösen. Richard hatte nie akzeptiert, dass es Domi war. Jedenfalls damals nicht. Die Einsicht, dass tatsächlich der Hund der Auslöser gewesen war, kam erst viel später, erst nach der Entdeckung, die sein Leben in seinen Grundfesten erschüttern sollte.
Ausgerechnet in der Woche, in der das Abitur anstand, fand er es heraus – weshalb er die Abschlussprüfung nie gemacht hatte. Seine Mutter war irgendwo unterwegs, während er daheim saß und paukte. Es zumindest versuchte, auch wenn ihn die Sonne und das blaue Wasser der Bucht, dessen Oberfläche wie Diamanten glitzerte, von seinen Büchern ablenkten. Im Nachhinein konnte er sich nicht erinnern, was ihn dazu brachte, auf den Dachboden zu steigen. Langeweile vermutlich. Es war Jahre her, seit er sich das letzte Mal dort oben in der staubigen Hitze aufgehalten hatte.
Grelles Sonnenlicht fiel durch das Dachfenster auf das vergessene Gerümpel eines ganzen Menschenlebens, und mitten darunter fand er die alte
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