Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
die Tür auf. Irgendwo hinter sich hörte er den Schaffner etwas rufen. Falls er den Sprung jetzt nicht schaffte, würde es böse enden.
Er schnellte hoch und flog eine Ewigkeit, wie ihm schien, an der offenen Tür durch die Luft, bis seine Füße auf den Stufen Halt fanden und er in den Zug klettern konnte. Als er sich hinauslehnte, um die Tür zuzuziehen, warf er einen letzten Blick auf den Bahnsteig. Niemand sonst hatte versucht, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, und wenn ihm jemand gefolgt war, dann hatte der jedenfalls das Nachsehen. Nachdem die Tür zugeschlagen war, stand er, den Rücken an die Wand gedrückt, keuchend da. Er fühte sich verflucht noch mal zu alt für solche Sperenzchen.
Nicole hielt nach ihm Ausschau, als die Abteiltür sich automatisch öffnete und er den Mittelgang entlanggeschwankt kam. Sie umarmte ihn noch einmal. «Ich hatte solche Angst, dass Sie sich den Hals brechen würden.»
«Tja, genau das wird passieren, wenn wir diesen Kerl zu nahe an uns herankommen lassen.» Er sackte auf den Sitz neben ihr und sah auf die Uhr. In einer Stunde wären sie in Souillac, wo Bertrand und Sophie sie erwarteten. Er blickte auf und sah, wie der Schaffner am anderen Ende den Großraumwagen betrat. Er seufzte. Zunächst einmal würde er eine plausible Erklärung dafür finden müssen, weshalb er keinen Fahrschein hatte.
Kapitel dreiundzwanzig
Die letzte Sonne fiel honigfarben über eine Landschaft, die sich nicht zwischen Herbst und Winter entscheiden konnte. Ringsum trugen die Bäume auf den Hügeln noch einen guten Teil ihres bunten Herbstlaubs und erstrahlten in Ocker bis Rostbraun, dazwischen Reste von Sommergrün.
Sowie die Sonne unterging, fielen die Täler in tiefe Schatten, während die gezackten vulkanischen Felsen, die in den rot erleuchteten Himmel ragten, kurz vor Einbruch der Dunkelheit noch einmal orange aufleuchteten. Die Flüsse und Bäche, die sich zwischen den Bergen hindurchschlängelten, glichen rosa schimmernden Silberbändern. In der kalten, klaren Bergluft war die Aussicht gestochen scharf.
Der Motor von Bertrands Kleinlaster ächzte die Steigungen hinauf, als sie das üppige Weideland im Südwesten hinter sich ließen und unaufhaltsam in die Steinwüste des Zentralplateaus vordrangen. Enzo konnte sich Raffins Ungeduld im Wagen hinter ihnen nur zu gut vorstellen. Die Straße verlief jetzt steiler, und seit sie Aurillac verlassen hatten, waren sie immer langsamer vorangekommen. Selbst in dem Schwall heißer Luft aus der Autoheizung spürten sie, wie ihnen die Kälte in die Füße kroch.
Nicole hockte, die Karte auf den Knien, vorne zwischen Sophie und Bertrand. Enzo und Kirsty saßen hinten und betrachteten das ständig wechselnde Panorama vor dem spektakulären Sonnenuntergang. Nicole spähte in die zunehmende Dunkelheit, der die Scheinwerfer nur wenig entgegenzusetzen hatten. «Jetzt müsste gleich eine Abzweigung nach links kommen. Bestimmt gibt es dort einen Wegweiser.»
Um sie herum waren die Hänge nun mit Koniferen bewachsen, und die Nacht legte sich von einem Moment zum anderen wie ein dunkler Mantel über das Land.
«Da vorne!», rief Nicole.
Die Lampen erfassten das Schild: Miramont 4 . Bertrand schaltete in den zweiten Gang herunter und bog in den schmalen, einspurigen Weg ein. Falls sie auf den nächsten vier Kilometern einem entgegenkommenden Fahrzeug begegneten, würde es schwierig.
Einige Minuten lang fuhren sie weiter bergauf, dann kam plötzlich eine scharfe Kurve, und sie gelangten auf ein Hochplateau, das zu ihrer Überraschung vom Mondlicht überflutet war. Im Westen hinter ihnen glühte der Himmel immer noch tiefrot. Über ihnen dagegen glitzerten bereits die Sterne, als wäre der Himmel von Eiskristallen überzogen. Sie folgten der Straße etwa zwei Kilometer geradeaus, bevor es zwischen Felsvorsprüngen hindurch und an Stoppelfeldern vorbei bergab ging und sie in ein flaches, bewaldetes Tal gelangten. Vor ihnen hießen sie in der zunehmenden Dunkelheit die Lichter von Miramont willkommen.
Auch wenn die Schule und die Kirche im Flutlicht erstrahlten, gab es in dem Dorf ansonsten kein Lebenszeichen. Kleine Wohnhäuser aus Granit kauerten sich unter den für die Auvergne typischen steilen Spitzgiebeldächern aus handgemeißelten Steinplatten zusammen. Die Fensterläden waren bereits gegen die Kälte und die Nacht geschlossen. Das Wasser im Brunnen vor der Kirche würde zweifellos bis zum Morgen gefrieren.
«Sie hat gesagt, es ginge gleich am
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