Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Dorfeingang nach rechts.» Enzo beugte sich vom Rücksitz aus nach vorne, dann zeigte er mit dem Finger nach draußen. «Da, ich glaube, das ist es.»
Hinter winterlichem Brachland stand, inmitten großer Bäume, ein großes, quadratisches Haus, durch dessen hohe Rundbogenfenster strahlend helles Licht fiel. Sie kamen an einem Swimmingpool vorbei, der für den Winter mit einer Plane bedeckt war, dann an einem zweistöckigen Taubenschlag, bevor sie vor der steinernen Eingangstreppe hielten, die von beiden Seiten zur Haustür hinaufführte. Raffin fuhr hinter ihnen heran. Sie stiegen alle zusammen aus und streckten auf der Kieseinfahrt die steifen Glieder. Ein abfallender Garten führte hinunter bis zu einer Mauer. Über den nackten Furchen des Feldes dahinter leuchteten die Lichter des fernen Dorfs herüber.
Die Tür ging auf, und das Dielenlicht fiel auf die Steinplatten des Treppenabsatzes. Anna trat heraus und lehnte sich auf das schmiedeeiserne Geländer. Sie lächelte den nach oben gerichteten Gesichtern entgegen und entdeckte Enzo.
«Schön, dass ihr es geschafft habt», sagte sie und zog eine Augenbraue hoch. «Hoffentlich habe ich genug Zimmer.»
* * *
In der eisigen Nachtluft bildete Annas Atem Wolken. «Ehrlich gesagt hatte ich kaum damit gerechnet, dich noch einmal wiederzusehen.» Sie suchte Enzos Blick im gelblichen Licht der Straßenlaternen an der menschenleeren Dorfstraße. Das einzige Lebenszeichen weit und breit kam aus dem Bar Tabac Restaurant Chez Milou, hinter dessen beschlagenen Fenstern lautes Lachen erklang.
Enzo war klar gewesen, dass er mit ihr reden musste, und so hatte er ihr einen kleinen Spaziergang vorgeschlagen. In Wintermantel und Schal gehüllt, hakte sie sich bei ihm unter, suchte seine Wärme. Er sah sie an, registrierte das Funkeln in ihren kohlschwarzen Augen und erinnerte sich, wie attraktiv sie war. Auch wie sich ihre Haut, ihr straffer athletischer Körper anfühlte, hatte er nicht vergessen. Er hatte als verzweifelter Mann, der nur noch kurze Zeit zu leben hatte, mit ihr geschlafen und ein wenig Trost gesucht. Jetzt, da das Todesurteil aufgehoben war, stellte er fest, dass er wieder mit ihr schlafen wollte. Diesmal ohne Hast – einfühlsam und in dem Bewusstsein, dass morgen auch noch ein Tag war. Er lächelte. «Ich war davon überzeugt.»
Sie legte den Kopf schief und sah ihn nachdenklich an. «Du bist irgendwie anders, Enzo. Schwer zu sagen. Als wir uns in Straßburg getroffen haben, schienst du die ganze Last der Welt auf deinen Schultern zu tragen. Aber jetzt kommst du mir … keine Ahnung … unbeschwerter vor.»
«Bei unserer Begegnung in Straßburg hatte ich noch drei Monate zu leben, Anna. Jetzt habe ich dieselben Aussichten wie jeder andere auch. Wie lange auch immer das sein mag.»
Sie sah ihn verständnislos an, und er lachte.
«Irgendwann erzähle ich dir vielleicht mal davon, aber im Moment schulde ich dir eine Erklärung dafür, wieso wir hier sind. Das konnte ich dir nicht am Telefon sagen. Aber wenn du willst, dass wir wieder gehen, sind wir morgen früh weg.»
Sie hielt ihn fester am Arm. «Wieso sollte ich wollen, dass ihr geht? Selbst wenn ich dich nicht für mich alleine habe, setze ich euch nicht vor die Tür. Es wurde allmählich ohnehin ganz schön einsam hier oben. Das ist jetzt fast so, als hätte ich wieder eine Familie.»
Sie schlenderten am Rathaus mit der Trikolore, der Europa-Flagge und dem verwitterten Anschlagbrett vorbei, und er erzählte ihr alles. Über seine Vergangenheit als Forensiker in Schottland, bevor er nach Frankreich kam, um in Toulouse Biologie zu unterrichten. Über die Aufklärung der ungeklärten Mordfälle in Raffins Buch. Dass einer der Mörder alles daransetzte, ihn auszuschalten. Über den Anschlag auf seine Tochter, die Brandstiftung in Bertrands Fitnesscenter, die Ermordung einer unschuldigen Frau, die allein dazu diente, Enzo als Täter erscheinen zu lassen.
Anna hörte sich alles aufmerksam und schweigend an, und als er sich wieder zu ihr umdrehte, schien sie ein wenig blasser zu sein. Sie bräuchten, sagte er, einen Ort, an dem sie vor dem Mörder sicher seien. Von wo aus sie ihm auf die Spur kommen und einen Weg finden konnten, ihn zu schnappen.
Als er geendet hatte, gingen sie noch ein Stück schweigend weiter. An den drei Stockwerken der angestrahlten Schule vorbei bis ans Ende des Dorfs, wo sie schließlich stehen blieben und über das gepflügte Feld zu den Lichtern des Hauses blickten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher