Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
davor Angst haben kann: Seine DNA ist in irgendeiner Datenbank gespeichert.»
Noch bevor er die Worte ganz ausgesprochen hatte, traf ihre Wirkung Enzo mit ganzer Wucht. Er zitterte. Soeben war er der Identifizierung seines Erzfeindes ein gutes Stück näher gekommen. Zugleich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Mörder davon erfuhr und versuchen würde, ihn an weiteren Entdeckungen zu hindern. Mit allen Mitteln. Enzo hatte seinen Gegner endgültig zum Duell herausgefordert. Nun blieb ihm keine andere Wahl mehr: er oder der andere.
Kapitel achtundzwanzig
Cadaqués, Spanien, September 1986
Auf dem gepflasterten Platz vor der Kirche boten zwei Mittelmeerpinien ein schattiges Fleckchen, eine Zuflucht vor der sengenden Sonne. Weiter unten sah man, wenn man über die roten Ziegeldächer hinwegblickte, vertäute Boote im glasklaren Wasser der Bucht sanft hin- und herschaukeln. Die von den weiß getünchten Wänden reflektierte Sonne blendete in den Augen.
Richard zögerte im Schatten der Bäume. Er hatte einen Kloß im Hals. Vor wenigen Minuten hatte er beobachtet, wie sie das Haus verließ. Eine Fünfzigjährige, der das Leben hart zugesetzt hatte. Das früher glänzend blonde Haar war inzwischen grau und streng zurückgekämmt, das dünne Gesicht wirkte nach jahrelanger vergeblicher Hoffnung verkniffen und abweisend.
Seine Mutter.
Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wieso er hergekommen war. Vermutlich aus Neugier, aus dem Bedürfnis, an seine Vergangenheit anzuknüpfen. Vor sechzehn Jahren und zwei Monaten war er aus diesem winzigen spanischen Fischerort entführt worden. Jenem Ort, in dem die Frau, die ihn damals geliebt hatte, seither wie in einem Gefängnis lebte. Und falls sie diese Liebe immer noch empfand, dann galt sie nicht ihm, sondern dem Kind, das sie vor Jahren verloren hatte und das nur noch in ihrer Erinnerung weiterlebte.
Es traf ihn wie ein Schock, sie zu sehen. Zu wissen, dass sie in die Kirche ging, um für ihn zu beten. Er hatte auf der Treppe gestanden, und der Zufall hatte es gefügt, dass sie in dem Moment erschien. Wären sich ihre Blicke begegnet, hätte er wohl «Hallo, Mutter» gesagt und sie aus ihrem Elend erlöst. Stattdessen war er wie angewurzelt stehen geblieben und hatte kein Wort herausgebracht. So war sie, in Gedanken versunken, so dicht an ihrem verschollenen Sohn vorbeigegangen, dass sie sich fast streiften.
Jetzt, wo er hier war, wusste er nicht so recht, was er machen sollte, doch wie ein mächtiger Atem zog es ihn in die Kühle der Església de Santa Maria. Nur endlich diesem Glutofen entfliehen. Er trat durch eine Öffnung in der hohen, beschlagenen Tür und sah sein Spiegelbild in einer Glaswand, die sich hinter einem schmiedeeisernen Gitter erhob. Sonnenbrille und Baseballkappe, Shorts und T-Shirt – nicht gerade die respektvolle Kleidung, die man von Kirchgängern erwartete.
Während er das Kirchenschiff betrat, setzte er Mütze und Sonnenbrille ab und brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Mit einem Mal wurde die Apsis am anderen Ende des Kirchenschiffs in warmes, goldenes Licht getaucht, und ein extravaganter Altar aus reinem Gold, der zur Gewölbedecke hinaufragte, leuchtete auf. Offenbar hatte ein Tourist eine Münze in den Automaten für die Beleuchtung geworfen. Engel schmückten Säulen und Bögen, die sich stufenweise zu einer Gestalt erhoben, die mit ausgebreiteten Schwingen in den Scheitelpunkt der Kuppel flog.
Einen Moment lang sah sich Richard das Gebilde staunend und ehrfürchtig an. Er hatte noch nie etwas dergleichen gesehen, zumindest nicht in einer solchen Pracht und Größe. Dann wanderte sein Blick auf der Suche nach seiner Mutter durch die Reihen der Bänke. Doch sie war nirgends zu sehen. Er schritt lautlos durch die Halle und wagte kaum zu atmen, bis er am Eingang zur Kapelle im Querschiff einen roten Netzvorhang sah. Auf einem Schild stand Andachtsstätte . Durch den Vorhang sah er einen bescheideneren Altar mit der Christusfigur darüber, die durch die hochgelegenen Fenster von Sonnenlicht überflutet wurde. Davor erkannte er die Silhouette einer einsamen Gestalt.
Angela Bright kniete mit gebeugtem Kopf und gefalteten Händen reglos am Altar. Richard blieb stehen und beobachtete sie ein paar Minuten lang in dem Wissen, dass sie ihn, falls sie plötzlich aufstand, nicht sehen würde. Falls es um seine Rückkehr ging, dann war ihr Gebet erhört worden. Doch er war schon zu dem Entschluss
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