Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
gekommen, dass sie es nie erfahren würde.
Er zog sich ins hintere Ende der Kirche zurück, um noch eine Weile unter dem riesigen Rundfenster aus Buntglas zu sitzen und auf den Altar zu starren, bis die durch den Münzeinwurf gekaufte Zeit abgelaufen war und der Altar wieder zurück ins Dämmerlicht sank. Durch das Glas am Eingang wurde er von hinten angestrahlt, sodass er im scharfen Kontrast zu dem rechtwinkligen Lichthof, der ihn umgab, nur als Silhouette zu erkennen war. Als seine Mutter schließlich aus der Kapelle trat, ging sie, ohne ein einziges Mal in seine Richtung zu blicken, an ihm vorbei. Sie hatte einen seltsam schlurfenden Gang wie eine alte Frau.
Er stand auf und folgte ihr nach draußen, wo er die Sonnenbrille wieder aufsetzte und den Schirm seiner Mütze tief ins Gesicht zog. Sie bog in die schmale Gasse mit dem Schieferkopfsteinpflaster ein, die zu ihrem Haus – einem weiß getünchten, dreistöckigen Bau mit rostroten Fensterläden und geziegelten Fensterbögen – führte. Er fragte sich, wie sie in dem weitläufigen alten Haus mit dem eingefriedeten Garten und der Bougainvillea, die sich mit ihren violetten Blüten vor den weißen Mauern erhob, wohl ihre Tage verbrachte. Lebten auch sein Bruder und seine Schwester noch hier? Er hob den Kopf und sah gemusterte Keramikfliesen unter den Traufen. Wer bezahlte das Ganze? Sein Vater?
Seine Mutter öffnete eine mahagonirote Tür und verschwand im Dunkel. Richard stand minutenlang da und starrte ihr hinterher. Vor ihm fiel die Straße flach Richtung Altstadt ab, beschattet von hohen Häusern und noch mehr Bougainvilleen. Mit wenigen Schritten hatte er auf der anderen Straßenseite ein kleines Restaurant erreicht, auf dessen Tafel in Kreideschrift das Tagesmenü stand. Für ein paar Pesetas gönnte er sich ein Mittagessen und eine Karaffe Wein.
Er wurde von einer attraktiven jungen Kellnerin bedient, die offensichtlich Interesse an ihm fand. Sie blieb in der Nähe seines Tischs und schien nur auf die Gelegenheit zu warten, sich mit ihm zu unterhalten. Sie sei gerade mit der Schule fertig, erzählte sie, um in den Familienbetrieb einzusteigen. Nach der stressigen Hauptsaison werde es jetzt allmählich ruhiger. Sie sprach gut Französisch und leidlich Englisch. Er bestellte eine Gazpacho, die mit weichem spanischem Brot serviert wurde, gefolgt vom Tagesfang, in diesem Fall Seebrasse, deren weiches, weißes und köstlich saftiges Fleisch ihn an zu Hause erinnerte. Auch wenn er es jetzt, da er wusste, wer er war, nicht mehr als Zuhause bezeichnen konnte. Es war der Ort, an dem er aufgewachsen war und an dem eine Fremde sich als seine Mutter ausgegeben hatte.
Er fragte, ob derzeit viele Ausländer Immobilien in der Stadt kauften, und sie erzählte ihm, es würden immer mehr. Auf der anderen Straßenseite zum Beispiel wohne eine alte Dame aus England, doch die sei schon seit vielen Jahren da. Señora Bright. Die sei auch kein Feriengast, es stecke vielmehr eine traurige Geschichte dahinter.
«Tatsächlich?» Richard schenkte dem Mädchen sein charmantestes Lächeln. «Erzählen Sie mal!»
Sie ließ den Blick zur Küche und über die anderen Tische wandern und stellte fest, dass sie nicht in Eile war. Also berichtete sie ihm, wie Señora Brights Kind entführt worden war, auch wenn sie selbst zu jung sei, um sich selbst noch daran zu erinnern. Die alte Dame wohne schon, seit sie denken könne, gegenüber. Früher habe sie zwei Kinder bei sich gehabt, doch die junge Kellnerin kannte sie kaum, denn ihre Eltern hatten sie auf eine Klosterschule geschickt, sodass sie von den anderen Kindern in der Stadt kaum etwas mitbekommen hatten. Immerhin hatte sie die beiden gelegentlich auf der Straße gesehen. Sie musterte Richard. «Der Junge sah ein bisschen wie Sie aus.» Sie versuchte, ihn sich ohne die Baseballkappe und die Sonnenbrille vorzustellen. «Aber er hatte viel längeres Haar.»
Richard fragte: «So, wie Sie von ihnen reden, scheinen sie nicht mehr hier zu wohnen.»
«Nein. Vor ein paar Jahren sind sie nach England zurückgekehrt. Um bei ihrem Vater zu leben, hat mir meine Mutter erzählt. Gut so, hat sie gesagt, sie hat für Engländer nämlich nicht viel übrig.»
Richard ließ sich mit seiner Mahlzeit Zeit und rauchte noch ein paar Zigaretten, während er überlegte, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte. Wer er werden wollte. Schließlich konnte er jetzt werden, wer und was er wollte. Doch sein Geld würde nicht mehr lange reichen,
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