Der Moloch: Roman (German Edition)
Vergangenheit nachdachte, kehrte Carvelho zurück. Er schob Bartellus das Stück Papier wieder über den Tisch zu und legte dann seine eigene Liste von Büchern daneben. Er lächelte.
» Mir ist wieder eingefallen, was du vor einiger Zeit gesagt hast«, sagte er eifrig zu Bartellus. » Was dein Interesse an militärischen Tätowierungen angeht. Du hast mir zwar gesagt, ich sollte mir deshalb keine Gedanken machen, aber jetzt bin ich auf dieses Exemplar gestoßen.«
Er hob einen großen Folianten hoch und las. » Kryptische Codes: Formelle und informelle Insignien unter Bewaffneten. Ein Soldat namens Anabathic Marcellus hat es verfasst.«
Bartellus zuckte mit den Schultern, um seinen Mangel an Interesse kundzutun, obwohl er insgeheim zwischen Besorgnis und Neugier schwankte. Er runzelte die Stirn. » Es war nur eine Laune, mehr nicht«, sagte er zu seinem Freund. » Ich will es nicht lesen. Bring es zusammen mit diesen Büchern wieder zurück.« Er hatte einen Stapel Bücher aufgeschichtet, die man wieder zu den Bibliothekaren zurückbringen konnte. Carvelho wirkte enttäuscht und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Doch in einem schwachen Moment strich Bartellus mit der Hand über den geprägten Umschlagdeckel. Fast gegen seinen Willen zog er das Buch heran und schnupperte am Ledereinband. Seufzend drehte er die schweren Seiten mit ihren glänzenden Prägungen um. Es war ein sehr teures Buch, vermutete er. Dann klappte er es wieder zu und warf einen Blick auf den Umschlag. Anabathic, dachte er. Der, der bergauf marschiert. Er fragte sich, wer sich hinter diesem Pseudonym verbarg. Es gab viele Männer mit dem Namen Marcellus. Marcellus Vincerus, Erster Lord der Cité, war Schriftsteller und Historiker. Hatte er sich Anabathic genannt, um dieses obskure Buch zu veröffentlichen?
Die glänzenden Seiten fühlten sich angenehm unter seinen Fingerspitzen an, als er sie umschlug. Und die strahlenden Farben der Bilder sprangen ihm ins Auge: Galoppierende Pferde, angreifende Löwen, Tiger in Lauerstellung, Adler und Schlangen tummelten sich auf den Seiten. Wie er schon zu Dol Salida und Creggan gesagt hatte, bewunderten Soldaten stolze und mächtige Tiere.
Während er das Buch betrachtete, schienen Erinnerungen von den Seiten aufzusteigen, warm und tröstlich. Keine Bilder von Blut, Tod und Schmerz, sondern Bilder von Gemeinschaft mit anderen Kriegern, Erinnerungen an die Gewissheit gemeinsamer Ziele und gemeinsamer Feinde und das sichere Wissen um Respekt, Kontinuität und Freundschaft.
Und unausweichlich dachte er an Fell, seinen Freund und loyalen Adjutanten. Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung öffneten sich Türen in seinem Verstand, eine nach der anderen, die geschmeidig in ihren Angeln aufschwangen und Welten aus Farben und Veränderungen enthüllten und Schmerz. Er erinnerte sich daran, wie Fell an seiner Seite galoppiert war, als sie die Frontlinie der Infanterie in jener siegreichen Schlacht am Schwarzen Fluss angriffen. Er sah ihn Jahre später, wie er mit seinen Kameraden der Neunzehnten Imperialen lachte, als sie im langen Sommer des Jahres 47 eine Schenke leer soffen.
Dann trat der Alte Bart durch eine dunkle, ältere Tür und sah erneut Fells Prozess vor dem Kaiser. Er sah die anonymen Gesichter, die zunächst den Strohpuppen der Quintana ähnelten, bis sie sich in Menschen aus Fleisch und Blut verwandelten – den Vinceri natürlich, und Flavius Randell Kerr, den alten Bock, und den großen Boaz. Alle beobachteten die Vorgänge interessiert, berechnend und ohne jede Spur von Mitgefühl.
Und vor ihnen allen stand diese Frau, die am dunkelsten Tag seines Lebens aufgetaucht war. Archange.
Es wurde langsam dunkel, und die Bibliothek schloss bereits ihre Pforten, als Bartellus hinaustrat in die länger werdenden Schatten. Er schlug den Weg nach Gervain ein, zum Dachboden der Hure Callista, und hüllte sich gegen die Kühle der Sommernacht in seinen Militärmantel.
Die beiden Jungen erhoben sich geschmeidig aus dem Windschatten einer niedrigen Mauer und trotteten in eine Gasse neben dem Gebäude, wo ein gebeugter rothaariger Mann sie an einer kleinen Tür erwartete. Er schob dem größeren der beiden ein Stück Papier in die Hand, bevor er wieder durch die hohe schmale Tür verschwand.
In der Dunkelheit gähnte der jüngere Bruder. Es wurde spät, und es wurde rasch kühl. Aber eine Aufgabe wartete noch auf sie. Bevor sie ihr behagliches Heim und den Kochtopf ihrer Mutter erreichten, mussten sie zuerst
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