Der Moloch: Roman (German Edition)
Es war vor vier Tagen gewesen, sie war in ihrer Werkstatt auf dem Dachboden gewesen. Sie hatte auf der breiten Fensterbank gesessen, von der aus man auf die Allee hinabschauen konnte, und die Vögel gefüttert, als sie sich hinausgebeugt und zu den Pflastersteinen hinuntergesehen hatte. Sie konnte die Köpfe der Leute sehen und war verlockt gewesen, ein Stück Brot nach unten fallen zu lassen und zu beobachten, ob es jemanden traf. Ein Kopf jedoch war ihr in der üblichen, langsam herumlaufenden Menge von Arbeitern und Straßenverkäufer aufgefallen. Er hatte blondes Haar, das in der Sonne glänzte. Der Mann schlenderte durch die Gasse, als hätte er alle Zeit der Welt. Als er etwas weiterging, sah sie, dass er ziemlich groß sein musste. Ein Soldat, dachte sie. Er ging sehr selbstbewusst, was sich deutlich von dem schlurfenden, fast demütigen Gang der Armen von Lindo abhob.
Sie hatte nicht mehr an ihn gedacht, bis sie ihn früher am heutigen Tag wieder gesehen hatte. Er lehnte in einer Ecke halb im Schatten versteckt. Sie war sicher, dass es derselbe Mann war, und er schien das Haus des Glases zu beobachten. Emly sprang auf und lief die ganzen Treppen vom Dachboden bis zum Erdgeschoss hinab. Dann ging sie in das Zimmer, das zur Straße hinausführte, einen Raum, der nie benutzt wurde, weil er muffig und feucht war. Aber es gab ein Fenster zur Gasse hin, das zwar verrammelt war, aber Spalten zwischen den Brettern aufwies. Es war völlig verdreckt. Sie hauchte auf das Glas und rieb es mit der Faust sauber. Der Mann stand nicht mehr in der Ecke, und sie war enttäuscht. Doch nur Augenblicke später sah sie, wie er auf sie zukam. Er ging wie ein Mann, dem die Welt gehörte, fand sie. Er war ganz bestimmt ein Soldat, denn er trug Militärstiefel und ein verblasstes rotes Wams, das einmal Teil einer Uniform gewesen sein mochte. Und er war bewaffnet. Er trug ein Schwert in der Scheide an seiner linken Hüfte und ein langes Messer am Gürtel an seiner rechten Seite.
Er kam näher, betrachtete das Haus des Glases von oben bis unten und warf einen interessierten Blick in die schmale Gasse daneben. Sie konnte erkennen, dass er sehr helle Augen hatte. Emly duckte sich weg vor seinem Blick, obwohl kaum die Gefahr bestand, dass er sie hinter der schmutzigen Scheibe sehen konnte. Als sie wieder hinsah, war er verschwunden.
Jetzt schüttelte sie den Kopf auf Fraylings Frage. Sie wünschte sich, sie hätte nie etwas davon gesagt, denn er würde wie ein Hund auf seinem Knochen darauf herumkauen, bis sie es schließlich Bartellus sagte.
» Wenn du es ihm nicht sagst, werde ich es tun«, sagte ihr Bediensteter jetzt, und dann errötete er, selbst verblüfft über seine Kühnheit.
17
Bartellus’ verletztes Knie schmerzte, als er die ruhigen Gefilde Gervains erreichte. Das Viertel lag im Nordwesten der Cité, behaglich eingekuschelt zwischen dem Luxus von Otaro und dem kaiserlichen Bezirk des Roten Palastes. Es war vielleicht die sicherste Gegend der Cité, in der ein alter Mann mitten in der Nacht allein spazieren gehen konnte, und Bartellus’ Griff um den Dolch lockerte sich zum ersten Mal, seit er die Große Bibliothek verlassen hatte.
Als er sich seinem Ziel näherte, trat er leiser auf und lauschte auf Schritte hinter sich, achtete auf Schatten, die sich in die Dunkelheit drückten. Aber es war ruhig und still in dem Viertel, und die einzigen Geräusche in der Nacht waren fernes Stimmengemurmel aus einer kleinen Schenke und sein eigenes angestrengtes Atmen.
Er bog in eine schmale Gasse ein und dann in einen dunklen Torweg. Als er die steile Treppe zu Callistas Dachgeschoss emporstieg, fragte er sich wie immer, ob das klug war. Abgesehen einmal von seiner Liebe zu Emly, war das der einzige Teil seines Lebens, der ihn angreifbar machte. Er wusste es und konnte dennoch nicht davon lassen.
Er klopfte zweimal an die einfache Tür am oberen Ende der Treppe, die sich sofort öffnete. Ein Schwall abgestandener Luft drang heraus.
» Wurde aber auch Zeit«, knurrte jemand. » Wir sind schließlich nicht zu deinem Vergnügen hier, Mann.«
» Vergnügen hat ja wohl kaum etwas damit zu tun«, erwiderte Bartellus giftig. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er sein Leben und vielleicht auch das von Emly diesem verdrießlichen, einäugigen, sarkastischen und verbitterten Soldaten anvertraute. Er nannte sich Vitellus, war ein ehemaliges Mitglied der Eintausend, der Elitesoldaten und Leibwächter des Kaisers. Deshalb war er ein
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