Der Moloch: Roman (German Edition)
noch ihrem Zahlmeister einen Besuch abstatten.
Emly hob den Kopf und entknotete die zerfranste Schnur in ihrem Nacken. Sie schob die dunklen Haarsträhnen zurück, die ihr ins Gesicht gefallen waren, und band dann die Schnur fester zusammen. Dann bückte sie sich zu der letzten Scheibe hinab. Der Tradition folgend, war die Farbe auf diesem Stück Glas schwarz, um die klaren Farben der anderen Teile zu ergänzen und zu kontrastieren. Doch Emlys Signatur, ihr eigenes Zeichen, das allmählich in den Heimen der Wohlhabenden bekannt wurde, war der eine Fleck bunter Farbe, der jedes Fenster schmückte.
Sie nahm einen schmalen Pinsel und tauchte ihn in einen Topf mit Farbe, die feuchter Erde glich. In die untere rechte Ecke einer flachen Glasscheibe zeichnete sie geschickt den Umriss eines Gulons. Mit einem winzigen Pinsel und schwarzer Farbe arbeitete sie seinen buschigen Schweif, seinen Körper und seine schlanken gespitzten Ohren heraus. Dann stand sie auf, ging zu einem Eckschrank und nahm einen kleinen Topf mit kostbarer Goldfarbe heraus, die speziell für sie von einem ihr wohlgesinnten Goldschmied in der Avenue der Gnade hergestellt wurde. Mit dieser Farbe tupfte sie zwei goldene Augen hinein. Der Gulon starrte sie aus dem Glas an, und sofort spürte sie die Feindseligkeit seines Blicks.
Sie war so daran gewöhnt, diese Signatur anzufertigen, dass sie kaum noch über ihre Bedeutung nachdachte. Der Gulon, den sie damals in den Kanälen gesehen hatte, war der erste und bisher einzige, dem sie je begegnet war. Es war an dem Tag gewesen, an dem ihr Bruder Elija verschwunden war. Sie konnte sich nur noch schwach an diesen schrecklichen Tag erinnern, nur an den großen, hässlichen Gulon und die Art und Weise, wie das Tier sie angezischt und seine langen gelben Zähne gefletscht hatte. Und an den letzten Blick auf ihren Bruder auf dieser Brücke im schwächer werdenden Licht der Fackeln, Sekunden, bevor sie weggerissen wurde. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an Elija dachte, aber sie verspürte bei dem Gedanken an ihn keine Hoffnung mehr in ihrem Herzen, sondern nur noch trauriges Bedauern.
Sie legte den Pinsel zur Seite und ließ die Hand sinken. Die Scheibe war noch längst nicht fertig. Sie war ein Puzzle aus bunten Scherben, die zwar alle geformt und bemalt, aber noch getrennt voneinander waren. Jetzt war die Arbeit so weit gediehen, dass man sie mit einer Fassung aus Bleistreifen zu einem Kunstwerk zusammenfügen konnte. Dies erforderte ebenfalls Geschicklichkeit und Handwerkskunst. Frayling und sie würden viele Stunden darauf verwenden, bis auch dieser Arbeitsschritt schließlich abgeschlossen war. Aber ihre kreative Arbeit war beendet, und wie immer empfand sie mehr Trauer als Befriedigung.
Das letzte Stück, das sie bemalt hatte, das mit den Tentakeln des Monsters, war getrocknet, und sie legte es auf ein Holzgestell. Sie deckte ein Stück Filz darüber und legte dann die Scheibe mit dem Gulon darauf. Dann packte sie das Tablett unter einen Arm, hob den Saum ihres Rocks und stopfte ihn in ihren Gürtel, bevor sie vorsichtig die Leiter hinunterkletterte. Unten angekommen bedeckte sie ihre Beine wieder und ging die Treppe zum Ofen im Erdgeschoss hinab, wo Frayling arbeitete.
Er musste gehört haben, dass sie kam, denn er machte ihr die Tür zur Werkstatt auf und nahm ihr das schwere Tablett aus den Händen. Frayling war ein großer dünner junger Mann, der sich ein wenig gebeugt hielt, mit mausgrauem Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Er war immer noch schüchtern Emly gegenüber, obwohl er seit mehr als zwei Jahren für ihren Vater arbeitete. Mit Bartellus ging er offener um. Der behauptete, der Junge hätte einen trockenen Humor, aber Emly hatte nie irgendeinen Beweis dafür bekommen. Frayling bewegte sich trotz seiner Krücke sehr geschickt. Sein rechtes Bein war grausam zerquetscht worden und nur noch als Stütze zu gebrauchen. Er war unverheiratet und hatte keine Verwandten. Sein Zimmer war eine winzige Zelle im ersten Stock, und er verließ nur selten das Haus.
» Also«, sagte er und nickte nervös, » der Gulon.«
Sie sah ihn an. Ein schönes Paar sind wir, dachte sie, ein schüchterner Mann und eine sprachlose Frau.
» Hast du Bartellus davon erzählt?«, fragte er und blinzelte. » Ich meine von dem Beobachter?«
» Du hast gesagt, du würdest es tun«, fuhr er fort, als sie nichts sagte.
Emly hatte versucht, nicht an den Mann zu denken, den sie in der Blauenten-Allee hatte herumlungern sehen.
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