Der Moloch: Roman (German Edition)
haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen, während sie Nadel und Faden vorbereitete. Sie arbeitete sich von rechts nach links vor, und verknotete jeden Stich einzeln, für den Fall, dass die Wunde sich wieder öffnen sollte. Er hatte eine alte Narbe auf seiner Brust, über der rechten Brustwarze, und die Klinge hatte sie durchtrennt. Sie war geformt wie der Buchstabe S, mit einem knappen Bogen. Es war keine Schwertwunde. Sie begriff, dass es eine Brandwunde war, wie ein Brandzeichen. Ihr fiel ein, dass Broglanh ebenfalls so ein Mal hatte. Sie beugte sich vor und betrachtete die Wunde in dem Dämmerlicht. Plötzlich fühlte sie, wie ein Atemhauch ihr Haar streifte, und blickte hoch. Fell sah auf sie herunter. Sein Gesicht war dicht vor ihrem. Dann schloss er die Augen wieder und lehnte sich zurück. Er hatte eine Tätowierung auf der rechten Schulter, einen Adler, der ein Schwert umklammerte.
» Ist das für die Vierte Adamantine?«, fragte sie ihn.
» Ja«, erwiderte er nach einer Weile.
» Und die Narbe? Ist das ein Brandzeichen?«
Diesmal schwieg er, und sie fragte sich, warum er immer noch so kühl zu ihr war. Hielt er sie immer noch für eine Deserteurin, einfach nur für eine notwendige Ressource? Was konnte sie tun, um sich zu rehabilitieren? Dann merkte sie, dass er ins Leere starrte. Er lauschte. Sie hob den Kopf.
Doon saß hoch oben auf dem Rand des Felsens und hielt Ausschau. » Wir kriegen Besuch!«, meldete sie.
Sie griffen alle müde nach ihren Schwertern, dann setzte Doon hinzu: » Es ist Garret. Was hat er bei sich?«
Es war ein langer Zweig, trocken aber fest, der an einem Ende eine breite Gabel aufwies. Der Soldat gab die improvisierte Krücke Staker und drehte sich dann zu Fell herum. » Tut mir leid, Ser. Ich konnte das Pony nicht finden.«
Fell nickte. » Irgendwelche Feinde gesichtet?«
» Nein. Weit unten im Süden habe ich Vögel kreisen sehen. Aber nichts in der Nähe, weder lebendig noch tot.«
Staker polsterte die Gabel mit Lumpen aus und schob sie sich dann unter die Achsel. Der Zweig hatte genau die richtige Länge für eine Krücke. Staker grinste und schlug Garret anerkennend auf den Rücken. Es war das erste Mal, dass Indaro den Mann lächeln sah. Sein Knöchel war im Kampf erneut gebrochen, und sein Fuß stand in einem höchst unnatürlichen Winkel ab. Es überraschte Indaro, dass der Mann überhaupt lächeln konnte. Und dass er zu irgendetwas anderem fähig war, als sich auf den Boden zu werfen und vor Schmerz zu winseln.
» Soll ich den Fuß noch einmal richten?«, fragte Fell ihn.
Der Nordländer sah ihn finster an. » Nein.«
» Gut. Dann mach dich abmarschbereit.«
Sie gingen die ganze Nacht. Es stand zwar kein Mond am Himmel, aber so viele Sterne, dass Indaro ihre Schatten auf dem staubigen Boden sehen konnte. Sie wirkten geisterhaft in dem Halbdunkel. Dann blickte sie zu den Sternen hinauf, die ihren Blick erwiderten und ihre Versuche zu verhöhnen schienen, ihre zerbrechlichen Körper noch ein paar Herzschläge länger am Leben zu erhalten. Fell und Garret trugen die improvisierte Bahre mit Queza, während Indaro mit einem Tornister, in den sie das Essen und die Medikamente der Blauen gepackt hatten, nebenherlief. Staker humpelte, so schnell er konnte, während Doon die Nachhut bildete. Ab und zu blieben sie stehen, bis die beiden sie wieder eingeholt hatten. Sie kamen nur langsam voran.
Beim ersten Morgengrauen befahl Fell eine Pause. Sie setzten sich hin und tranken Wasser, während Garret Wache hielt. Indaro legte ihre Hand auf Quezas Hals, um ihren Puls zu fühlen, wie sie es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Jedes Mal erwartete sie, nichts mehr zu spüren, aber sie schloss die Augen und konzentrierte sich, und nach einer Weile fühlte sie den schwachen Pulsschlag des Lebens, unregelmäßig, flatternd, aber er war da. Als sie hochsah, bemerkte sie, dass Fell sie beobachtete. Sie nickte, und Fell schüttelte staunend den Kopf. Sie träufelte der Frau etwas Wasser in den Mund. Dann, impulsiv, packte sie Quezas Hand und drückte sie, versuchte, etwas von ihrer eigenen Stärke in die andere Frau zu pumpen. Sie schlief ein, während sie die Hand der Verletzten hielt.
Sie erwachte im Morgengrauen. Der Himmel war von wunderbarer korallenroter und dunkelblauer Farbe, die die langen Herbsttage ankündigte, ihre Lieblingszeit des Jahres. Als Kind hatte sie sich immer darauf gefreut, wenn die Dinge zu Ende gingen.
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