Der Mond im See
gnädige Frau?«
Alles, was der Kriminalrat uns auseinandergesetzt hatte, beschäftigte mich sehr. Als ich kurz darauf nach Hause ging, mußte ich darüber nachdenken. Denken – das war es – es schien das Wichtigste in diesem Fall zu sein.
Amigo begrüßte mich herzlich und recht vergnügt. Ich erfuhr, daß der Ruedi vorbeigekommen war, um nach ihm zu sehen, und mit diesem Patienten sehr zufrieden war. Daraufhin hatte Amigo von Tante Hille ein gutes Kalbfleischsüppchen bekommen, das er bis zum letzten Tropfen mit großem Appetit verspeist hatte. Jetzt wollte er in den Garten gehen. Er tat es auf seinen vier Beinen, ich begleitete ihn, und ich hatte ein wenig Angst, was er tun würde. Am Ende weglaufen? Doch nein, er erging sich ein wenig unter den Apfelbäumen, blieb dann neben mir vor der Türschwelle sitzen, und als ich sagte: »Komm, das langt für heute«, folgte er mir widerspruchslos ins Haus.
Kurz darauf klingelte das Telefon. Annabelle verlangte mich zu sprechen. Sie war ziemlich kurz angebunden.
»Könntest du nicht herüberkommen und mir helfen, die Pferde zu bewegen?« fragte sie.
»Natürlich«, sagte ich. »Ich bin in zehn Minuten da.«
Chérie war schon gesattelt. Ich brauchte nur noch Bojar fertigzumachen, und dann ritten wir los.
»Eine halbe Stunde wenigstens«, sagte Annabelle, »und nachher nehmen wir die beiden anderen noch kurz heraus. Peter kommt erst morgen wieder und kümmert sich um den Stall. Wenn er auch noch nicht reiten kann, so kann er wenigstens longieren.«
Darauf schwieg sie. Ich sah ihr an, daß sie verärgert war. Sie hatte eine Falte auf der Stirn und blickte nicht nach rechts oder links.
Wir ritten scharf. Ich ließ Bojar weit ausgreifen, und die Fuchsstute hielt mühelos mit ihm Schritt. Heute ritten wir unten am See entlang, übersprangen den Graben, wo ich Annabelle am ersten Abend gesehen hatte. Am Nordende, wo es zu meinen Seerosen ging, hielt ich Ausschau nach dem Rollstuhl. Er war nicht mehr da. Ich parierte Bojar zum Schritt durch und ließ ihn dicht am Gebüsch weitergehen.
Annabelle blickte hinüber zur Straße. »Hier war es, nicht?«
»Ja.«
Sie machte mit Chérie eine kurze Kehrtwendung und trabte den Pfad entlang, der zur Straße führte. Wir ließen die Pferde die Böschung hinaufklettern und warteten, bis die Straße leer war, um sie zu überqueren.
»Der Platz war gut gewählt«, meinte Annabelle, als wir drüben wieder abwärts gingen, einen schmalen Feldweg entlang nach Norden.
»Ja. Sie kannten sich gut hier im Gelände aus.«
Sie lachte kurz auf.
»Vielleicht denkt ihr nun erst recht, daß ich es war, die das alles ausbaldowert hat. So sagt man doch in der Verbrechersprache, nicht?«
»Annabelle! Was soll der Unsinn?«
»Dein neuster Freund hat mich vorhin ziemlich scharf verhört.«
»Was für ein Freund?« fragte ich, obwohl ich mir denken konnte, wen sie meinte.
»Na, dieser Polizeimensch aus Frankfurt. Eine Unverschämtheit. Was geht den das überhaupt an? Aber das ist wieder mal so typisch für die Deutschen. Überall mischen sie sich ein. Er ist hier zu Gast in der Schweiz und mußte sich wichtig machen.«
»Ich glaube, du tust Herrn Baumer unrecht. Er hat es nun einmal miterlebt und ist vom Fach, kein Wunder, daß er sich mit der Sache beschäftigt.«
»Es geht ihn nicht das geringste an«, wiederholte sie ärgerlich. »Reine Wichtigtuerei. Renate hat ganz recht, wenn sie mit der Polizei nichts zu tun haben will. Die können bloß alles verderben. Wenn der Junge umgebracht wird, sind sie nur schuld daran.«
»Was wollte er von dir wissen?«
Sie stieß wieder ein kurzes Lachen durch die Nase. »Alles. Was ich getan habe, ehe ich herkam, mit wem ich zusammen war, mit wem ich gesprochen habe, in welchen Kreisen ich verkehre. Wer Yves ist, wer Bill ist, in welchen Kreisen sie verkehren. Na, ich habe ihm deutlich gesagt, was ich von ihm halte.«
»Du solltest ein bißchen kooperativer sein. Vielleicht hast du wirklich mit irgend jemandem darüber gesprochen, daß René hierherkommt, überlege mal in Ruhe.«
»Ach, sieh an. Très charmant. Du verdächtigst mich also auch. Bildet ihr euch vielleicht ein, ich habe den Jungen entführt, um mir Dior-Modelle kaufen zu können?«
»Kein Mensch denkt so etwas. Es ist ja nur, weil du es als einer der ersten gewußt hast, daß er hierherkommt. Und vielleicht hast du doch …«
Sie wandte sich zu mir um und rief mit zornblitzenden Augen: »Ach, sei still. Das sieht dir ähnlich, du
Weitere Kostenlose Bücher