Der Mond im See
sie. »Wir müssen morgen zeitig reiten wegen der Hitze und der Fliegen. Und außerdem, du weißt ja, um diese Zeit ist in der Schweiz Feierabend. Auch bei uns hier draußen.«
Sie brachte mich in die Halle. Ich blickte zur Rezeption. Aber natürlich war die kühle Ilona nicht mehr da. Ein älterer Herr in korrekter Hotelportieruniform saß jetzt dort.
»Gute Nacht, Walter, bis morgen.«
Ich nahm ihre Hand, hielt sie fest und zog sie mit mir hinaus vor die Tür. Im Schloßhof duftete stark und süß die Akazie. Die Autos schliefen wie große stumme Tiere.
Ohne ein weiteres Wort schloß ich Annabelle in meine Arme und hielt sie fest.
»Nicht«, flüsterte sie.
Ich sah in ihr Gesicht, märchenschön, jung und süß. Wie ich sie liebte! Und dann küßte ich sie.
Sie gab mir ihre Lippen nicht, stemmte sich gegen meine Umarmung und bog den Kopf zurück.
»Annabelle!« sagte ich leise.
Sie küßte mich rasch auf die Wange. »Gute Nacht, Walter. Bis morgen.« Und ganz leise: »Sei nicht so ungeduldig.«
Ich ließ sie los, und sie ging zurück ins Haus.
Sei nicht so ungeduldig! Herrgott! Am liebsten hätte ich laut geschrien vor Glück. Ihre Lippen, ich hatte sie wieder geküßt. Und ich würde – es war gar nicht auszudenken, was ich alles tun würde.
Dreißig Jahre war ich alt? Ach, woher denn! Neunzehn, genau neunzehn, kein Jahr älter. Und jetzt würde ich gleich da unten am Seeufer umherrennen und mir im feuchten Gras nasse Füße holen. Und ihren Namen vor mich hinsagen. Annabelle! Immer wieder. Genau, ganz genau wie damals.
Als ich eine Stunde später leise zum Gutzwiller-Haus schlich, erwartete mich eine Überraschung.
Unter dem Haselnußbaum hockte ein dunkler Schatten. Fast hätte ich ihn nicht bemerkt. Aber da er sich bewegte, sah ich schärfer hin. »Du!« sagte ich erstaunt. »Wo hast du denn gesteckt den ganzen Tag? Na, komm her. Komm halt! Amigo!«
Er machte zwei scheue Schritte auf mich zu und blieb dann wieder stehen.
»Na, dann nicht. Aber etwas fressen wirst du vielleicht wollen. Mal sehen, ob wir was finden.«
Ich ging ins Haus und ließ die Tür offen. Die Küche war peinlich sauber aufgeräumt. Und im Kühlschrank fand ich nur einen kleinen Fleischrest von Mittag. Aber etwas Wurst war da. Und Brot. Ich schnitt die Wurst in Stücke, brockte Brot dazwischen und tat das Fleisch und etwas kalte Soße dazu. Viel war es nicht. Und sicher nicht das Richtige. Und wenn er sich etwa angewöhnte, täglich zu kommen, mußte man für ihn etwas vorbereiten.
Ich ging vor das Haus. Er stand jetzt ziemlich ungeniert mitten auf dem Weg und blickte mir gespannt entgegen.
»Tut mir leid, Amigo, mehr ist nicht da heute abend. Die Damen sind schon im Bett. Aber ich verspreche dir, daß ich mich morgen an die Hotelküche persönlich wenden werde. Die müssen doch jede Menge Futter für dich haben. Also ich hoffe, morgen abend kann ich dir mehr bieten.«
Ich stellte die Schüssel hin, ziemlich nahe zu mir. »Na, komm her.« Er kam einen Schritt, aber mehr nicht.
»Du bist ein Feigling, Amigo. Ich tu dir bestimmt nichts. Ich bin ein glücklicher und verliebter Mann. Ich liebe zur Zeit die ganze Welt. Da bist du auch dabei. Das einzige, was ich dir gern antäte: Ich möchte dich mal baden und mit Läusepulver bestreuen. Kann sein, du würdest mir das nie verzeihen. Aber es wäre sehr zu deinem Vorteil. Es würde dich vielleicht schloßfähig machen. Renés Mama sieht nicht so aus, als ob sie nein sagen könnte. Überleg dir mal, ob du es nicht doch mit Sauberkeit probieren willst. Also dann – bis morgen.«
Ich ging ins Haus zurück und schloß die Tür hinter mir. Die Schüssel würde im Nullkommanichts leer sein. Es war ja wirklich nur ein Happen für so einen großen Hund. Und gleich morgen nach dem Reiten würde ich der Schloßküche einen Besuch abstatten. Oder mir drüben einen Vermittler besorgen. Mein Pflichtenkreis wuchs. Zunächst morgen früh reiten mit Annabelle – geliebte Annabelle! –, dann mit ihr baden gehen, dann René über seinen Hund berichten, Futter für selbigen besorgen, Annabelle umwerben, mit Ruedi einen Schoppen trinken. Tante Hille nicht zu vergessen, die mich gelegentlich sicher auch mal sehen wollte, und – ich gähnte. Viel zu tun für einen einzigen Mann.
Keine Ahnung hatte ich davon, daß mich noch ganz andere Dinge am nächsten Tag erwarteten.
Ich fand mich pünktlich zur verabredeten Stunde im Stall ein. Annabelle war schon da. Sie trug eine korrekte weiße
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