Der Mondmann
Ergebnis bereitete ihr keine Freude. Bestimmt hatten die Raben Maxine und John entdeckt und würden sie beobachten oder vielleicht auch angreifen wollen.
Das war nicht ihre Sache. Sie traute ihren beiden Freunden schon zu, sich zu wehren, falls es dazu kommen sollte, denn sie wollte ihre Neugierde befriedigen.
Das Ziel war dieses Gebilde, das wie ein mächtiger Arm in die Nacht hineinstieß.
Das Vogelmädchen ließ sich auf seinem Flug Zeit. Der Gegenstand lief ihm nicht weg. Er war deshalb so wichtig für sie, weil er ihrer Meinung nach nicht passte. Etwas Ähnliches war auch an anderer Stelle nicht zu sehen, und so musste dieser Gegenstand schon eine bestimmte Bedeutung haben.
Sie flog näher an ihn heran. Das Rauschen der Flügelschläge gefiel ihr. Der Wind ließ sich ertragen, und je weiter sie flog, umso mehr verlor sie an Höhe.
Ein anderer Geruch erreichte ihr Nase. Er drang aus der Tiefe zu ihr hoch, und sie glaubte, die alte Erde und auch altes Mauerwerk schnuppern zu können.
Carlotta war durch die Genmanipulation nicht nur zu einem fremdartigen Wesen geworden, es gab auch noch andere Vorteile, die in ihr steckten. So waren ihre Sinne schärfer als die eines Menschen, deshalb nahm sie auch die Gerüche intensiver auf.
Zudem sah sie ihr Ziel viel besser. Es war ein alter Turm, der vielleicht mal zu einer Festung gehört hatte, von der aber nichts mehr zu sehen war. Nur der Turm hatte die Zerstörung überstanden, aber auch er war nicht ohne Blessuren davongekommen.
Es gab kein Dach mehr. Sein oberes Viertel war zerstört. Unterschiedlich hoch ragten die Mauern und sahen an ihren Enden aus wie verschieden lange Zähne.
Bevor sich Carlotta um den Turm kümmerte, schaute sie sich um, weil sie sehen wollte, ob sie noch verfolgt wurde.
Ja, es flatterten noch einige Raben in ihrer Nähe, aber sie hielten Distanz.
Carlotta sah es als gut an. Sie flog jetzt die restlichen Meter auf den Turm zu und suchte nach einem Landeplatz auf einer der Kanten.
Zunächst aber umkreiste sie die Öffnung, weil sie in die Tiefe schauen wollte.
Ihr Blick fiel in einen Schacht. Er war stockdunkel, obwohl sich an den Seiten des Turmes Öffnungen befanden. Ehemalige Fenster, durch die jedoch niemand mehr schaute.
Das Fliegen lenkte sie doch etwas zu stark ab, um das Innere des Turmes genauer zu erkunden. Maxine und John hatte sie vergessen, denn sie war von einem regelrechten Jagdfieber gepackt worden.
Noch schwebte sie über der Öffnung. Dann hatte sie eine genügend breite Stelle auf dem Rand gefunden, um sich dort niederzulassen. Mit den Füßen berührte sie zuerst das Gestein, ohne jedoch ihr gesamtes Gewicht darauf zu verlagern. Sie wollte zunächst die Festigkeit herausfinden, denn es konnte sein, dass dieses alte Gestein so porös war, dass es auseinander fiel.
Es trat nicht ein. Außerdem hätte sie durch ihre Flugkunst immer schnell verschwinden können.
Das Vogelmädchen ließ sich in die Hocke sinken und nahm wenig später einen ganz normalen Sitz ein, denn diese Lage war wesentlich bequemer.
Der Flug hatte sie zwar nicht angestrengt, doch innerlich fühlte sie sich aufgeputscht. So wartete sie, bis sie die Ruhe wiedergefunden hatte. Erst dann konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe und senkte den Kopf.
Nichts war zu sehen. Nur dieser von tiefer Dunkelheit erfüllte Schacht. Genau das wollte sie nicht akzeptieren, denn sie hatte auf einmal die Vorstellung, dass dieser alte Turm nicht leer war. Dass sich dort jemand versteckt hielt.
In den alten Geschichten war ja zu lesen, dass es den Mondmann zwar gab, dass er aber nie gefunden wurde. Wenn er wollte, zeigte er sich aus eigenem Willen. Wer aber nach ihm suchte, der fand ihn nicht. Dass er sich in Luft auflösen konnte, daran wollte Carlotta nicht glauben. Also musste er schon ein gutes Versteck haben, und dieser Turm konnte es möglicherweise sein.
So sehr sie ihre Augen auch anstrengte, von einem Mondmann sah sie nichts. Kein Laut drang an ihre Ohren. Die Tiefe schwieg wie ein Grab.
Das Vogelmädchen überlegte seine weiteren Schritte. Es konnte starten und wieder zu seinen Freunden fliegen, aber das unruhige Gefühl hielt sie davon ab. Auch wenn sie nichts sah, konnte sie sich denken, dass der Turm eine Botschaft versteckte, die darauf wartete, entdeckt zu werden.
Eine kurze Untersuchung konnte deshalb nicht schaden. Leider besaß sie keine Taschenlampe, um in die Tiefe zu leuchten, und so verschaffte sie sich auf andere Art und Weise Gewissheit.
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