Der Mondmann
Sie richtete sich wieder auf und machte sich flugbereit. Eine Sekunde später schwebte sie über der Öffnung.
Sie war sehr breit. So brauchte Carlotta keine Angst zu haben, mit den Flügeln gegen irgendwelche Hindernisse zu schlagen. Sie sank so langsam wie möglich in die Tiefe hinein und hielt den Blick dabei nach unten gerichtet.
Es war gut, dass sie sich so verhalten hatte, denn leer war der Turm nicht. Das war er auch nie gewesen. Man hatte ihn zwar teilweise zerstört, doch im Innern war noch etwas heil geblieben, denn in die Dunkelheit hinein schob sich ein graues Etwas oder drückte sich von unten her nach oben.
Zuerst erkannte Carlotta nichts. Sie sank weiter nach unten und wusste plötzlich Bescheid.
Unter ihren Füßen endete eine Treppe, auf die sie beide Füße setzte und wieder eine Pause einlegte.
Wenn sie näher darüber nachdachte, war die Treppe nichts Besonderes. So etwas gehörte zu einem Turm. Und diese Aufgänge waren in der Regel als Wendeltreppen angelegt. Carlotta dachte darüber nach, ob sie über die Treppe in der Dunkelheit nach unten gehen sollte. Es gab auch eine andere Möglichkeit. Sie konnte außen am Turm entlangfliegen und vor dem ehemaligen Eingang landen.
Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, wurde sie abgelenkt, denn sie hörte ein Geräusch. Und wenn sie sich nicht zu sehr täuschte, war es das Jammern einer Frauenstimme...
***
Maxine Wells saß hinter dem Steuer, während ich auf dem Beifahrersitz hockte. So unterschiedlich wir auch als Menschen waren, eines allerdings hatten wir gemeinsam.
Wir waren beide starr geworden. Seit meinem Einstieg war vielleicht eine Minute vergangen, und in dieser kurzen Zeit hatte sich einiges verändert.
Die Raben griffen uns zwar nicht mehr an, aber sie waren auch nicht verschwunden, denn sie hielten am und auf dem Mercedes Wache. So standen zwei Vögel auf der Kühlerhaube und glotzen aus ihren kalten Augen durch die Windschutzscheibe gegen uns. Da sich beide nicht bewegten, sahen sie aus wie ausgestopft. Selbst der Wind plusterte ihr Gefieder nicht auf.
Andere Tiere hielten den Wagen ebenfalls unter Kontrolle. Einige stiegen vom Boden her immer wieder in die Höhe, umkreisten das Fahrzeug und hackten ab und zu mit den Schnabelspitzen gegen die Scheiben, ohne dem Glas jedoch etwas antun zu können, denn es bekam weder Sprünge noch irgendwelche Löcher.
Diese Untätigkeit konnte uns natürlich nicht gefallen, aber was sollten wir tun? Abfahren, den Weg zu Maxine’s Haus finden, um dort zu warten, dass etwas passierte und uns der Mondmann tatsächlich über den Weg lief? Seine Boten hatte er schließlich geschickt. Für sie waren wir Störenfriede, sonst hätten sie uns nicht angegriffen. Also konnte es durchaus noch Pläne dieser rätselhaften Gestalt geben.
Maxine schüttelte den Kopf. »Es ist zum Verrücktwerden, John, wir hätten Carlotta nicht fliegen lassen dürfen. Wäre sie hier, würde eine Entscheidung leichter fallen.«
Ich stimmte ihr durch mein Nicken zu. »Dann hast du vor, auf sie zu warten?«
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme hörte sich etwas mutlos an. »Ich weiß es wirklich nicht. Warten oder losfahren. Zu mir nach Hause, wo Carlotta sicherlich hinkommen wird, wenn alles glatt für sie läuft. Aber das würde ich nicht unterschreiben. Diese Raben sind unsere Feinde, John. Warum sollten sie sich bei Carlotta anders verhalten. Und viele Vögel können auch des Menschen Verderben sein.«
Ich winkte ab. »So negativ würde ich nicht denken, Max. Du kennst Carlotta, ich kenne sie auch ein wenig, und wir beide wissen, was sie schon alles geschafft hat.«
»Richtig.« Max schaffte ein Lächeln. »Aber ich denke bei ihr wie eine Mutter, und Mütter machen sich nun mal Gedanken. Wenn wir wenigstens wüssten, wohin sie geflogen ist. Aber nein, nichts.« Sie hob die Hände und ließ sie auf den Lenkradring fallen. »Es ist zum Verzweifeln, und es ist dunkel, sodass wir auch nicht den Himmel nach ihr absuchen können. Also warten und hoffen.«
Ja, es konnte so kommen, musste aber nicht. Dass Carlotta bisher nicht von ihrem Ausflug zurückgekehrt war, bereitete auch mir Sorgen. Ich musste einen Schritt weiterdenken. Weil es nicht eingetroffen war, musste es einen Grund geben. Möglicherweise hatte sie auf ihrem Flug etwas Wichtiges entdeckt, von dem sie uns bei ihrer Rückkehr erzählen würde.
Mit Maxine sprach ich über das Thema. Sie stimmte mir in fast allen Punkten zu, nur bei einem Begriff hatte sie
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