Der Mondscheingarten
erlahmen. Ihr Verstand weigerte sich noch immer, das zu glauben – doch war Bruns ein Mann, der in solch einer Situation lügen würde?
»Gehen Sie am besten nach Hause zu Ihrer Mutter. Ich wollte jemanden schicken, aber es wäre wohl besser, wenn Sie sich selbst um sie kümmern.«
Rose nickte betäubt und wandte sich dann langsam um.
»Ich komme heute Abend noch einmal zu euch, bis dahin sollten wir hier fertig sein«, rief er ihr nach, doch sie hörte es nicht mehr. Betäubt und mit einem seltsamen Schwindelgefühl, das sie glauben ließ, über die Planken eines schwankenden Schiffes zu gehen, ging sie durch die Menschenmenge. Diesmal brauchte sie nicht zu bitten, durchgelassen zu werden, der Anblick ihres geschockten Gesichts ließ die Leute von allein zurückweichen. Hin und wieder berührte sie jemand am Arm, vermutlich Leute, die sie kannten, aber Rose achtete nicht auf Gesichter. Sie bemerkte es nicht einmal, als sie die Menschenmenge hinter sich gelassen hatte.
»Miss Gallway!«, rief eine helle Frauenstimme. Erst da blieb Rose stehen und blickte auf. Mai hatte sie eingeholt, wagte aber nicht, weiter als bis auf zwei Armlängen an sie heranzukommen.
»Geh ins Hotel, Mai«, hörte Rose sich sagen. »Ich brauche dich im Moment nicht.«
»Aber Miss Gallway, ich …«
»Tu doch wenigstens einmal etwas ohne Widerspruch!«, zischte Rose und schloss genervt die Augen. Sie spürte, dass Tränen über ihre Wangen kullerten. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein schwatzhaftes Mädchen, das nicht im Geringsten wusste, wie ihr zumute war.
Mai zuckte erschrocken zurück. »Ja, Miss, ich geh schon, Miss«, sagte sie und wirbelte herum. Rose blickte ihr nicht nach, sondern setzte den Weg zu ihrem Elternhaus fort.
Der Schmerz tobte in ihr und die Angst vor der Reaktion ihrer Mutter. Für einen Moment war sie versucht, sich einzureden, dass sich der Arzt geirrt hatte. Dass ihr Vater sie zu Hause erwartete und sie in den Arm nahm und beruhigte.
Als sie durch die Haustür trat, stürzte ihre Mutter ihr entgegen. Ihre Augen weiteten sich erschrocken, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah. »Was ist passiert?«, fragte sie, während sie sich an Roses Unterarme klammerte. Ihre Hände waren feucht und kalt, und ihr Mund zitterte. Ahnte sie, was passiert war?
Rose brachte zunächst kein einziges Wort heraus. Du musst es ihr sagen, forderte sie sich selbst auf. Nun sag doch etwas! Doch ihr Mund wollte nicht gehorchen.
Erst nach einer ganzen Weile brachte sie es über sich, ein Wort zu sagen. »Vater …«
Mehr sagte sie nicht. Nur »Vater«. Doch das reichte Adit bereits. Mit einem schrecklichen Klagelaut warf sie sich in die Arme ihrer Tochter, und beide brachen in Tränen aus.
Die folgenden Tage rauschten an Rose vorbei wie ein Fischschwarm an einer Wasseranemone. Sie erwachte am Morgen, stand auf, sah nach ihrer Mutter, die es nicht über sich brachte, das Bett zu verlassen oder gar das Tageslicht zu sehen. Hin und wieder kamen Leute vorbei, der Pastor, der Sargtischler, Nachbarn. Mit allen redete Rose, ohne sich später an das Gesagte erinnern zu können.
In ihrer Trauer um ihren Vater sehnte sie sich noch mehr nach Paul. Wann würde sie ihn wiedersehen? Wann sich in seine Arme schmiegen, sich von ihm trösten lassen können? Wann würde er ihr all den furchtbaren Schmerz nehmen können, der in ihr wütete?
Irgendwann war dann der Tag zu Ende, ohne dass sie etwas geschafft, ohne dass sie auch nur einmal nach ihrer Geige gegriffen hätte, die Mai ihr am ersten Tag nach dem Unglück gebracht hatte.
Rose hatte sich nie Gedanken darum gemacht, ob sie es über sich brächte, auf einer Beerdigung ein Requiem für einen geliebten Menschen zu spielen.
Doch da sie wusste, wie gern ihr Vater ihrem Spiel gelauscht hatte – letztlich hatte er sie auch deswegen gefördert, weil er Geigenmelodien liebte –, bat sie Carmichael, das Nötige zu arrangieren und die entsprechenden Noten zu bringen, damit sie üben konnte.
Das Requiem von Mozart hatte sie in ihrem Leben nur ein einziges Mal gespielt, und doch erinnerte sie sich an jede einzelne Note.
An ihres Vaters Grab musste sie dann alle Kraft zusammennehmen, um den Bogen auf die Saiten zu setzen. Ihre Hände zitterten, und die Vorstellung, dass sie ihren Vater nie wiedersehen würde, ließ ihre Knie weich werden und sie fast zusammenbrechen.
Doch als die ersten schwermütigen Klänge über dem Friedhof schwebten, wurde der Schmerz ein
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