Der Mondscheingarten
wenig verlegen auf seine Schuhspitzen.
»Setz dich doch«, sagte Rose, während sie langsam zum Küchenbord ging. Hatte sich ihr Körper immer schon so schwer angefühlt? Während der vergangenen Tage hatte sie nicht darauf geachtet, doch Carmichaels Besuch schien sie in die Wirklichkeit zurückgeholt zu haben. »Du kommst sicher, um mir zu sagen, dass ich mich für die Tournee vorbereiten soll.«
Carmichael blickte sie zunächst überrascht, dann scheinbar erleichtert an, weil sie es ihm abgenommen hatte, das Thema zur Sprache zu bringen. »Du weißt, wir hängen unserem Zeitplan hinterher. In deiner Situation ist das natürlich verständlich, und niemand versteht das besser als ich, denn auch ich habe meinen Vater bei einem Unfall verloren. Aber die Veranstalter werden nicht ewig warten. Und wenn wir ein ganzes Land enttäuschen, wird das deinem Ruf schaden.«
Das wusste Rose, doch ihre Zweifel waren stärker als ihre Angst vor dem Verlust ihres Rufes. Allerdings kam ihr jetzt nicht zum ersten Mal in den Sinn, dass sie ab sofort für ihre Mutter sorgen musste – vor allem finanziell, denn ob ihr der Besitzer des umgestürzten Krans eine Rente oder Abfindung zahlen konnte, war fraglich.
»Wann wäre denn der nächste machbare Termin?«, fragte sie also, worauf Carmichael sie so überrascht anschaute, als hätte er eine gegenteilige Antwort erwartet.
»Ähm … soweit ich weiß … Delhi … genau, Delhi … am Siebzehnten.«
Natürlich hatte Rose diesen Termin bereits im Kopf gehabt. Es war nicht das erste Mal, dass sie in Indien auftrat. In Delhi war sie kurz nach ihrem ersten großen Konzertauftritt gewesen, auf Einladung eines Earls, der sie in London gesehen hatte. Die farbenfrohe Stadt mit ihren wunderbaren Palästen hatte sie fasziniert. Vielleicht würde es ihr ein wenig Ablenkung bringen, dort aufzutreten.
»In Ordnung, wir reisen nach Delhi«, beschied sie schließlich, wenngleich sie immer noch nicht wusste, wie sie ihr ursprüngliches Repertoire wieder aufnehmen sollte. »Lass alles packen und gib mir Bescheid, wann wir abreisen. Ich bleibe solange noch bei meiner Mutter, sie braucht mich.«
Carmichael nickte und erhob sich dann. »Sag ihr mein Beileid, ja?«
Rose nickte und begleitete ihn zur Tür.
Als er fort war, betrat Rose das Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihre Mutter hatte sich wider Erwarten nicht hingelegt, sondern saß auf dem Korbstuhl vor dem Fenster, aus dem sie zwischen den beiden Häusern gegenüber aufs Meer schauen konnte.
»Du wirst wieder auf Tournee gehen, nicht wahr?«, fragte sie, ohne sich umzusehen.
»Ja, Mutter. Und das tue ich nicht, weil mir die Musik wichtiger ist als du, ich tue es, um dich versorgen zu können.«
Ihre Mutter, die zweifellos das Gespräch mit angehört hatte, sagte darauf zunächst nichts.
»Und selbst wenn du die Musik mir vorziehen würdest, wäre ich dir nicht böse«, sagte sie dann und erhob sich so schwer, als würden nicht nur fünfundvierzig, sondern fünfundachtzig Jahre an ihrem Leib zerren.
»Aber Mutter, ich …«
»Ist schon gut, meine Kleine. Du warst der ganze Stolz deines Vaters, und es wäre eine Schande, wenn du hierbleiben und zusehen würdest, wie dein Ruhm vergeht. Geh ruhig wieder auf Tournee, spiele, und spiele gut für deinen Vater, denn der wird dir wahrscheinlich vom Himmel aus zusehen.« Sie kam ganz dicht an Rose heran und nahm ihr Gesicht zwischen ihre Hände. »Du bist etwas ganz Besonderes, Rose. Versprich mir, dass du immer gut auf dich achtgeben wirst, denn in dir und deinen Kindern lebt dein Vater weiter.«
»Mir wird schon nichts geschehen, keine Sorge«, entgegnete Rose tapfer. »Ich bin doch bisher auch immer gut durchs Leben gekommen.«
»Das bist du. Aber jetzt, wo ich nur noch dich habe, sieh dich besonders vor, ja?«
Diese Bitte erschien Rose ein wenig merkwürdig, doch sie nickte, nahm die Hände ihrer Mutter und führte sie sich an die Stirn.
»Meinst du, dass die alte Frau …«, begann Rose zögerlich, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Meinst du, dass sie uns verflucht hat, nachdem du dich geweigert hast …«
Adit schüttelte den Kopf. »Nein, mein Kind, es liegt nicht in der Macht dieser Frau, uns zu verfluchen. Wenn das so wäre, wenn es meine Schuld wäre, dass dein Vater tot ist, so hätte ich meinem Leben sofort ein Ende bereitet. Wahrscheinlich wollte mich das Schicksal mit dem Auftauchen dieser Frau warnen. Aber eine andere Entscheidung hätte deinen Vater nicht retten können.
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