Der Mondscheingarten
wenig erträglicher. Rose ließ sich mit der Melodie treiben und ignorierte die Tränen, die über ihre Wangen rannen. Die Seele ihres Vaters sollte mit schönen Klängen in den Himmel aufsteigen. Als sie ihr Spiel beendet hatte, trat sie mit hängendem Kopf zurück. Sie achtete nicht auf die Trauergäste, doch sie spürte, dass sie ergriffen waren. Auch der Pastor hatte zunächst keine Worte. Die Melodie echote noch einige Augenblicke nach, bevor die Beerdigung fortgesetzt wurde.
Als sie vom Friedhof zurückkehrten, waren Rose und ihre Mutter sehr still. Es war Adit unschicklich erschienen, einen Leichenschmaus zu veranstalten, also dankte sie den Anwesenden einfach nur und zog sich dann zurück.
Rose wusste nicht, ob die Leute wirklich Verständnis dafür hatten, aber in diesem Augenblick war es ihr auch egal. Immer wieder fragte sie sich, ob nicht ihre Vermessenheit, ihr eigenes Glück zu suchen, schuld an dem Ganzen war. Doch was hätte sie tun können, damit ihr Vater nicht von dem umstürzenden Kran erschlagen wurde? Sie war nicht unten am Hafen gewesen, sie hatte doch nicht ahnen können …
Die beiden Frauen setzten sich an den Küchentisch, und obwohl sie einander ansahen, waren sie beide weit weg mit ihren Gedanken. Rose wünschte sich in diesem Augenblick, dass Paul noch da wäre, dass sie die Gelegenheit hätte, mit ihm zu reden, sich an seine Brust zu lehnen. Doch ihr Liebster war weit fort, und sie saß hier, selbst dann noch, als die Dunkelheit über das Haus hereinbrach und der Lärm der Straße die Stille vertrieb.
Es folgten weitere Tage der Lethargie. Rose saß meist vor dem Fenster und versuchte, einer Melodie in ihrem Kopf nachzuspüren, die sie dann doch nicht zu fassen bekam.
Nachdem sich Carmichael zwei Wochen lang geduldig gezeigt hatte, erschien er Anfang der dritten Woche im Haus der Gallways. Als sie ihn vor der Tür stehen sah, hätte sich Rose am liebsten versteckt oder wäre zur Hintertür hinausgelaufen, doch sie wusste, dass das kindisch war. Und sie wusste auch, dass sie dem, was Carmichael fordern würde, nicht entkommen konnte. Die Tour sollte weitergehen, nach Indien und schließlich nach Australien. Rose hatte alle Daten im Kopf und wusste, dass er bereits drei Auftritte abgesagt hatte. Mehr ging nicht. Aber konnte sie einfach auf die Bühne steigen, als wäre nichts passiert? Konnte sie spielen?
Als Carmichael zum wiederholten Male klopfte, blickte sie auf ihre Hände. Sie schienen sich seit dem Requiem auf dem Friedhof nicht verändert zu haben, aber dennoch bezweifelte Rose, dass sie damit genauso spielen konnte wie vor dem Unglück. Die Musik kam nicht nur aus den Händen, sie kam aus der Seele, und diese war jetzt sogar zweifach verwundet. Sie konnte nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen.
»Willst du nicht öffnen, Kind?«, fragte ihre Mutter plötzlich. Das hartnäckige Klopfen hatte sie aus dem Bett gelockt, bleich und elend stand sie in der Küche. »Ich weiß doch, du kannst nicht für immer hierbleiben. Das Leben ruft dich, Rose.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Rose hilflos und in der Hoffnung, dass Carmichael kehrtmachen würde. Aber er blieb stehen und lauschte. Wahrscheinlich hatte er ihre Stimmen längst bemerkt.
»Ich komme schon zurecht, Rose. Es wird mir schwerfallen, und ich weiß nicht, wie ich ohne deinen Vater leben soll, aber stell dir vor, du wärst jetzt nicht zufällig hier, sondern am anderen Ende der Welt. Die Nachricht hätte dich womöglich erst Wochen später erreicht, und erst nach noch einmal so vielen Wochen wärst du hergekommen.«
»Aber …«
»Nun geh schon und öffne, sonst schlägt er uns noch ein Loch in die Tür. Hör dir zumindest an, was er zu sagen hat, und dann entscheidest du.«
Rose nickte, und während ihre Mutter sich wieder in ihre Schlafkammer zurückzog, strich sie ihr Kleid glatt und ging zur Tür.
»Rose, Gott sei Dank!«, rief Carmichael aus, der sich sichtlich Sorgen gemacht hatte. »Ich dachte schon …«
»Keine Sorge, niemand hier in diesem Haus ist ernsthaft krank oder selbstmordgefährdet«, entgegnete sie ihm rau und trat dann beiseite. »Komm rein, ich nehme an, du willst mit mir sprechen.«
Carmichael musterte sie aufmerksam, dann ging er an ihr vorbei.
»Wie geht es dir und deiner Mutter?«, fragte er, während er etwas ratlos in der Küche stand.
Rose verkniff sich eine zynische Antwort und sagte nur: »Den Umständen entsprechend.«
»Gut, gut …«, entgegnete er und blickte dann ein
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