Der Mondscheingarten
betrachtete kurz die Rose und wandte sich dann wieder der Vorderseite zu.
»Die Geige von Rose Gallway. Ich hätte nicht geglaubt, sie jemals in den Händen halten zu dürfen, aber manchmal geschehen noch Wunder.«
»Und Sie wissen wirklich nicht, wie die Geige in die Hand der kleinen Helen Carter gelangt ist, wo sie doch Rose Gallway gehört hat?«, fragte Ellen nachdenklich.
»Wir vermuten, dass Rose die Geige versetzt oder verkauft hat. Oder dass sie ihr gestohlen wurde. Wenn Rose Opfer eines Verbrechens wurde, ist Letzteres wahrscheinlich und würde auch ihr Verschwinden erklären.«
»Aber gab es denn niemanden, der auf sie achtgegeben hat? Musiker hatten doch damals schon so was wie Manager oder Agenten.«
»Das stimmt, und im Fall von Rose wissen wir sogar, wer dieser Agent war. Sein Name war Sean Carmichael, ein ziemlich umtriebiger Bursche, der früh das Potential von Rose erkannt hat. Leider hat ihn ihr Niedergang ziemlich hart erwischt, möglicherweise hat er sie auch fallen gelassen. Auch das ist immer noch Gegenstand unserer Forschung, und da Sie diesen Gedanken aufgebracht haben, werde ich ihm als Nächstes nachgehen.«
Damit legte er sich die Geige unters Kinn. Lilly wollte schon fragen, ob er Lust hätte, den »Mondscheingarten« zu spielen, doch da begann er auch schon. Überrascht stellte sie fest, dass es sich um das Stück handelte. Offenbar hatte er es auswendig gelernt.
Überwältigt schloss sie die Augen und versuchte, sich einen Garten vorzustellen. Einen Garten mit wilden Blumen, Bäumen, von denen lange Blattgirlanden herabhingen, dichtem Gestrüpp, in dem sich kleine Tiere verbargen. Darüber einen Mond, der alle Farben verblassen ließ, dem Ort aber dennoch nichts von seiner Schönheit nahm.
Diese Vision hielt einige Minuten an, dann beendete Gabriel das Stück. Langsam nahm er den Bogen herunter und betrachtete dann beeindruckt die Geige.
»Kein Wunder, dass man meinte, Helen Carter sei eine Enkelin von Paganini. Wenn ich mit meinen bescheidenen Fähigkeiten die Geige so zum Klingen bringen kann, wie war es dann bei einem Genie wie ihr? Oder bei Rose Gallway, deren Talente beinahe noch ein bisschen größer waren?«
Bevor Lilly protestieren konnte, fuhr ein Wagen vor. Wenig später erschien Dean im Wohnzimmer.
»Entschuldigt bitte, dass ich so spät komme«, sagte er seufzend. »Diese Baustelle macht mich geradezu wahnsinnig.«
»Dean, das ist Mr Thornton«, stellte Ellen ihren Gast vor. »Und ich glaube, es sind noch ein paar Geschichten für dich übrig.«
Erst weit nach Mitternacht verabschiedete sich Gabriel und folgte Lilly nach draußen.
»Es war wirklich ein schöner Abend«, begann er dann mit einem schüchternen Lächeln, während er die Hände in den Hosentaschen vergrub. »Ihre Freundin und deren Mann sind sehr nett.«
»Es sind wunderbare Menschen. Ich verdanke ihnen sehr viel. Sie waren immer für mich da, besonders nach dem Tod meines Mannes.«
Gabriel schien sich zu erinnern. »Ja, davon haben Sie mir im Flugzeug erzählt. Es ist gut, dass man sich auf Menschen verlassen kann. Ich hätte mir gewünscht, dass ich auch auf so gute Freunde hätte zurückgreifen können nach der Trennung von Diana.«
»Ihrer Frau.«
Gabriel nickte, und für einen Moment wirkte er so verletzlich, dass sie ihn am liebsten in ihre Arme gezogen hätte. Doch Lilly hielt sich zurück. Sie spürte, dass er sie mochte, doch das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihm um den Hals zu fallen.
»Das tut mir leid«, sagte sie dann, weil ihr nichts Besseres einfiel.
»Das muss es nicht. Diana und ich waren nicht füreinander geschaffen, ganz einfach. Und ich hatte so sehr meinen Job im Kopf, dass ich meine Freundschaften vernachlässigt habe. Das hat sich gerächt. Aber Fehler macht man im Leben, um daraus zu lernen, nicht wahr?«
Er lächelte sie an, dann zog er etwas aus seiner Tasche.
»Hier habe ich noch etwas für Sie.«
Lilly erkannte, dass es die zweite Kopie war, die er vorhin nicht aus dem Umschlag genommen hatte. Es handelte sich um die Niederschrift eines Märchens, das mit »Die Vergessene« betitelt war.
»Diese Geschichte muss unsere gute Miss Patrick von Rose aufgeschnappt haben. Es ist ein recht bekanntes indonesisches Märchen, soweit ich weiß, taucht es in einigen Sammlungen auf. Es gibt uns leider keinen Hinweis darauf, ob Rose den ›Mondscheingarten‹ komponiert hat, aber es zeigt, welche Einflüsse Rose während ihrer Kinderzeit hatte. Ich habe gelesen, dass
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