Der Mondscheingarten
staunend die Träne, die wie ein Tautropfen aussah.
»Manchmal weinen Menschen auch, wenn sie glücklich sind«, entgegnete die Frau, zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit über die Augen. Dann sah sie Helen noch eine Weile an, als wollte sie sich jede Linie, jede Augenbraue, ja jede Pore einprägen.
»Ihr habt einen wunderschönen Garten«, sagte die Frau dann und deutete über Helens Schulter. »Weißt du denn, wie die Blumen da drin alle heißen?«
Helen schüttelte den Kopf. »Nein, nicht alle. Aber ich weiß, was Rosen sind und Fangi … Fragi …«
»Frangipani«, half die Fremde ihr auf die Sprünge.
»Ja, genau, Frangi … pani.« Wenn Helen langsam sprach, konnte sie das Wort meistern. »Und Orchideen und Jasmin.«
Die Frau lachte kurz auf. »Du kennst aber viele Blumen! Die wichtigsten, würde ich sagen.«
»Aber wir haben noch viel mehr«, entgegnete Helen. »Möchtest du sie dir mal ansehen?«
»Später vielleicht.«
Als sie den Ruf von Helens Mutter hörte, schreckte die Fremde hoch.
»Ich glaube, ich muss jetzt gehen«, sagte sie und schob das Taschentuch wieder in ihren Ärmel zurück. Ihre Stimme klang auf einmal leiser, als wollte sie flüstern.
»Besuchst du mich wieder?«, fragte Helen, während sie hörte, wie ihre Mutter wiederkam.
»Ja, ich besuche dich«, versprach die Fremde. »Aber erzähl bitte deiner Mutter nichts. Sie muss nicht wissen, dass ich hier war.«
»Warum denn nicht?«
»Weil es ein Geheimnis ist.«
»Ein Geheimnis?«
»Ja, ein Geheimnis. Und wenn du es für dich behältst, bringe ich dir nächstes Mal etwas Schönes mit.«
»Was denn?«, fragte Helen, doch die Frau blickte über ihre Schulter und sah dann Helens Mutter, die mit langen Schritten zum Tor geeilt kam.
»Das wirst du sehen. Ich komme bald wieder.« Damit wandte sie sich um und ging mit raschem Schritt davon.
Nur einen Moment später tauchte ihre Mutter hinter ihr auf. »Helen, da bist du ja! Ich habe die ganze Zeit nach dir gerufen!«
Das wusste Helen, doch sie konnte ihrer Mutter unmöglich sagen, dass sie keine Lust gehabt hatte, zu antworten.
»Wer war denn die Frau, mit der du geredet hast?« Helens Mutter, Ivy Carter, reckte den Hals und versuchte, die Fremde noch zu sehen, doch sie war bereits verschwunden.
»Weiß ich nicht«, antwortete Helen, spürte aber zugleich, dass sie ihrer Mutter nicht mehr erzählen durfte, wenn sie erfahren wollte, welches Geschenk die Fremde für sie hatte.
»Und was wollte sie von dir?«
Helen biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie sagen? Ihre Mutter anzulügen, wäre ihr im Traum nicht eingefallen. Aber sie durfte die Frau, diese schöne fremde Frau, die vielleicht eine Prinzessin war oder eine gute Fee, nicht verraten.
»Sie sagte, dass wir einen schönen Garten haben.« Das erschien ihr richtig, denn die Frau hatte den Garten ja gelobt.
Helens Mutter lächelte jetzt und hob sie schwungvoll auf ihre Arme. »Na, hoffentlich warst du so höflich, dich dafür zu bedanken.«
Auch darauf nickte Helen. »Ja, das habe ich getan, und ich habe auch gefragt, ob sie reinkommen möchte, aber das hat sie nicht getan und sich verabschiedet.«
Ivy drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. Gleichzeitig vertiefte sich aber die Sorgenfalte zwischen ihren Augen, was ihr stets einen nachdenklichen bis ärgerlichen Ausdruck verlieh.
»Hab ich was falsch gemacht?«, fragte Helen, die diesen Ausdruck nur zu gut kannte, denn ihre Mutter blickte manchmal auch so drein, wenn sie etwas angestellt hatte.
»Nein, du hast nichts falsch gemacht, mein Liebling«, entgegnete ihre Mutter. »Es war sehr höflich, dass du sie hereinbitten wolltest. Allerdings solltest du mir vorher Bescheid sagen, denn man kann nicht wissen, was das für eine Person ist.«
»Aber sie war ganz freundlich!«, erklärte Helen mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ivy seufzte. Wie sollte sie ihrer Tochter nur erklären, dass freundlich wirkende Menschen nicht immer freundlich waren? Dass Erwachsene hinter lächelnden Mienen Geheimnisse verbargen?
»Gut, dann komm jetzt rein, die Scones sind fertig, und davon möchtest du doch sicher einen probieren?«
Helen nickte eifrig und hopste dann hinter ihrer Mutter ins Haus.
In dieser Nacht lag Helen lange wach und betrachtete die Schatten an der Zimmerdecke. Die Umrisse des Fensters und der Bäume, die sich draußen im Meereswind wiegten, waren ihr früher einmal unheimlich vorgekommen. Doch mittlerweile wusste sie, dass es nur
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