Der Mondscheingarten
Bäume waren und keine Dämonen.
Als sie das herausgefunden hatte, war sie ein wenig enttäuscht gewesen, denn sie liebte Märchen. Besonders das Schattenspiel, zu dem ihr Vater sie vor kurzem mitgenommen hatte, hatte ihr gefallen. Zusammen mit ihrer Freundin Antje Zwaneweeg hatte sie noch tagelang über die schönen und teilweise auch gruseligen Puppen gesprochen, die sich so wunderbar hinter der beleuchteten Leinwand bewegt hatten.
Als sie dann aber auf die Schatten an der Zimmerdecke geblickt hatte, die ihr früher immer so ein wohliges Gruseln beschert hatten, erkannte sie, dass die Bäume wirklich nur Bäume waren. Und das, was an ihnen vorbeihuschte, nur Nachtvögel auf Nahrungssuche.
Dafür hatte sie jetzt ein richtiges Geheimnis! Ob die fremde Frau morgen kommen würde? Sie hatte bald gesagt, aber wie Helen wusste, war dies keine besonders genaue Zeitangabe. Wenn sie ihrer Mutter sagte, dass sie bald Ordnung in ihrem Zimmer schaffte, dauerte es mindestens ein oder zwei Tage, bis sie das wirklich tat.
Wie lange würde es bei der fremden Frau dauern?
Am nächsten Morgen, als sie mit ihrer Mutter im Unterrichtszimmer saß und eigentlich Buchstaben üben sollte, konnte Helen nur daran denken, wann die fremde Frau kommen würde. Fast fürchtete sie schon, dass sie beim Zaun auftauchen könnte, wenn sie nicht dort war. Vielleicht dachte sie dann, dass Helen sich nicht an ihr Versprechen halten wollte …
Am liebsten wäre sie nach draußen gelaufen und hätte nachgeschaut. Doch sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht rauslassen würde, bis sie die Buchstabenreihen geschrieben hatte.
»Helen, hörst du mir zu?«
Das Mädchen schreckte zusammen. Sie hatte wohl gehört, dass ihre Mutter etwas gesagt hatte, doch sie hatte nicht auf die Worte geachtet.
»Helen, was ist denn mit dir heute los?«, fragte ihre Mutter besorgt und legte ihr Buch weg. »Du bist mit den Gedanken ja ganz woanders.«
Beschämt blickte Helen auf den Tisch vor sich. Was sollte sie sagen? Der Unterricht bei Miss Hadeland machte ihr keinen Spaß, aber mit ihrer Mutter lernte sie gern zusammen, weil sie ihr versprochen hatte, sie eines Tages auf eine richtig schöne Schule zu schicken, wo sie ganz viele Bücher lesen und Musik machen durfte.
Als Helen nicht antwortete, kam ihre Mutter zu ihr, hockte sich vor sie und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Bist du müde, mein Schatz? Hast du vielleicht schlecht geschlafen?«
Der Einfachheit halber nickte Helen, denn geschlafen hatte sie wirklich nicht viel. Aber sie konnte, nein, sie durfte nicht zugeben, dass sie eigentlich so abwesend war, weil sie nur daran denken konnte, wann die Frau mit ihrem Geschenk auftauchen würde. Wenn sie ihr doch nur einen Tag und eine Uhrzeit genannt hätte!
Diesmal ließ es ihre Mutter dabei bewenden und fuhr zwar mit dem Unterricht fort, pochte jedoch nicht darauf, dass sich Helen sehr beteiligte. Helen wusste allerdings, dass das nicht so weitergehen konnte. Wie sollte sie sich nur von dem Gedanken an die fremde schöne Frau ablenken?
In den folgenden Tagen lief Helen immer dann zum Tor, wenn ihre Mutter nicht da war, um nach der geheimnisvollen Besucherin Ausschau zu halten. Natürlich war sie nicht ganz allein im Haus, die Köchin war da und auch das Zimmermädchen, doch diese saßen, wenn die Hausherrin unterwegs war, in der Küche zusammen, schwatzten und tranken Tee.
Mehr denn je war Helen froh darüber, dass sich eigentlich niemand um sie kümmerte und alle davon ausgingen, dass sie brav in ihrem Zimmer an ihren Hausaufgaben säße.
Der Gedanke an die fremde Frau und das versprochene Geschenk beherrschte Helens Denken schon, wenn sie die Augen morgens aufschlug. Beim Frühstück stocherte sie gelangweilt in ihrem Porridge herum, beim Unterricht war sie unkonzentriert. Immer wieder wanderten ihr Blick zum Fenster und ihre Gedanken zu dem Geschenk, das die Frau ihr machen wollte. Was würde es sein? Ein Armband? Ein Strauß Blumen? Nein, darum musste man kein großes Geheimnis machen. Aber vielleicht war es ein Holzkästchen, in dem ein Juwel lag? Oder noch etwas viel Spannenderes wie ein Zauberbuch oder eine sprechende Puppe?
Während sie am Tor stand und wartete, ging sie alle Dinge durch, die sie kannte, und als ihr die bekannten Gegenstände ausgingen, erfand sie neue.
Sie ließ sich auch nicht davon entmutigen, dass ihr Warten vergebens war. Wenn ihre Mutter sie mit verwundertem Blick vom Tor abholte und fragte, warum sie dort
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