Der Mondscheingarten
für diese Geschichte habe ich doch mindestens eine Portion Nachtisch verdient, oder was meinen die Damen?«
Etwas später, nachdem sie den Nachtisch verdrückt und es sich auf der Sitzgruppe vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten, nahmen sie das Gespräch über die Rosengeige und ihre Besitzerinnen wieder auf.
»Haben Sie denn auch etwas Neues über Helen Carter?«, fragte Lilly und verdrängte ihr Grübeln darüber, wie sie nach Indonesien kommen sollte.
»Natürlich habe ich in den Hausbüchern auch nach ihr geschaut, aber die gute Miss Patrick war mittlerweile verstorben, und ihre Nachfolgerin führte die Bücher weit weniger akribisch. Noch immer wurden die Neuzugänge vermerkt, doch der Eintrag über Helen brachte nicht viel Neues. Ihre Eltern sind James und Ivy Carter aus Padang, geboren wurde sie am 12. Dezember 1902, und die alte Mrs Faraday, die tatsächlich mit ihren dreiundachtzig Jahren immer noch umherreiste, um junge Talente zu begutachten, wurde auf sie aufmerksam, weil die Leute ihr von dem Wunderkind vorschwärmten. Das meiste Können soll Helen nämlich autodidaktisch erworben haben, wie es bei so einigen Musikgenies der Fall war. Nach dem Erdbeben im Jahr 1910 taucht ihr Name ziemlich häufig auf, und schließlich wurde sie von Mrs Faraday besucht. Wahrscheinlich bekam sie das Angebot unterbreitet, bei ihr zu lernen, denn im Jahr 1911 trat Helen Carter als eine der jüngsten Schülerinnen in das Konservatorium ein. Mrs Faraday bemühte sich in den ersten Jahren noch persönlich um sie, musste den Unterricht aber drei Jahre später ihren Lehrerinnen überlassen, denn sie erlitt einen Schlaganfall. Dennoch kümmerte sie sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1916 um Helen und machte aus ihr den Star, der sie in den Jahren 1919/1920, den beginnenden Golden Twenties, war.«
»Und dann kam der Unfall.«
»Ja, dann kam der Unfall, genau genommen ein Verkehrsunfall, sie wurde von einem Autobus angefahren, und die Welt war um einen Stern ärmer. Helen überlebte zwar, spielte aber nie wieder, weil ihre linke Hand verstümmelt war.«
»Das muss furchtbar gewesen sein«, raunte Ellen, während sie auf ihre eigenen Hände blickte. »Wenn man mit ganzer Leidenschaft dabei ist … Ich habe mir als Kind manchmal gewünscht, dass meinen Händen etwas passiert. Nach anfänglicher Begeisterung über das Geigenspiel verlor ich das Interesse daran, aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich weitermache. Ihnen zuliebe habe ich das getan, aber Lilly kann Ihnen bestätigen, wie sehr mich das genervt hat.«
»O ja!«, setzte Lilly hinzu, dann fuhr Ellen fort.
»Allerdings kann ich mir auch vorstellen, wie es wäre, wenn ich mit vollem Herzblut dabeigeblieben wäre. Eine Verletzung zu erleiden, die es mir unmöglich macht, meiner Berufung nachzugehen, muss ganz furchtbar sein. Eigentlich vergleichbar damit, dass mein Institut abbrennt.«
»Wogegen man sich heutzutage versichern kann«, gab Gabriel beipflichtend zurück. »Ich kenne sehr viele Profimusiker, die sich ihre Hände ziemlich hoch versichern lassen – höher noch als ihr Leben. Doch damals hat es so was noch nicht gegeben. Und ich glaube nicht, dass man einen Herzblutmusiker mit Geld darüber hinwegtrösten könnte, dass er die Fähigkeit zu spielen verliert. Die finanzielle Sicherheit ist zwar gewährleistet, aber was ist das schon gegen Leidenschaft?«
»Hat Helen vielleicht deshalb geheiratet, weil sie keine andere Wahl hatte und sonst ruiniert gewesen wäre?«
»Nein, das glaube ich nicht, sie wird ihren Mann nach dem Herzen gewählt haben. Es deutet jedenfalls nichts darauf hin, dass sie ein finanzielles Interesse hatte.«
»Immerhin hat sie dann noch die Liebe bekommen«, raunte Ellen gedankenvoll, dann verlor sich ihr Blick wieder in der Ferne.
Für einige Minuten schwiegen sie, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
»Übrigens hatten Sie mir noch versprochen, dass ich einmal auf Ihrer Geige spielen darf«, wandte sich Gabriel schließlich an Lilly. »Habe ich mich durch meine Geschichten qualifiziert, sie in der Hand halten zu dürfen?«
Lilly errötete. Eigentlich hätte sie ihm die Geige gleich zeigen sollen, wie unhöflich von ihr!
»Aber natürlich, ich hole sie.«
Während sie aufsprang, spürte sie Gabriels Blick zwischen ihren Schulterblättern. Mit dem Geigenkasten wieder zurück, hob sie das Instrument vorsichtig aus dem roten Futter und reichte es Gabriel. Dieser drehte es vorsichtig und voller Ehrfurcht herum,
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