Der Mondscheingarten
noch einmal in den Kopien, die sie eigentlich nicht mehr brauchte.
»Hier, für Sie«, sagte sie zu Verheugen, als sie ihm die Blätter reichte. »Das ist das Tagebuch, von dem ich Ihnen gestern erzählt habe. Und Kopien des Erdbebenartikels.«
Am vergangenen Abend hatte sie ihm nicht nur von dem Erdbeben und Roses Tod erzählt, auch hatte sie voll schlechtem Gewissen gebeichtet, dass sie etwas aus dem Gouverneurshaus hatte mitgehen lassen, das sie ihm nicht gezeigt hatte.
Der Zahnarzt hatte die Augenbrauen gehoben, doch seine Verwunderung legte sich, als Lilly ihm die Geschichte des Tagebuchs erzählte – und dass sie es von der Museumsdame geschenkt bekommen hatte.
»Ich nehme mal an, dass Sie meine Hilfe bei der Übersetzung des Artikels brauchen.«
»Ja, das wäre sehr nett. Aber nur, wenn es Ihnen keine allzu großen Umstände macht.«
Während sie sprach, fiel Lilly wieder ein, dass sie noch immer auf Nachricht von dem Mann wartete, der das Notenblatt auf einen Code untersuchen wollte. Wenn etwas angekommen wäre, hätte Ellen ihr sicher geschrieben. Aber welches Geheimnis würde das Notenblatt – wenn es überhaupt eines gab – hüten?
»Umstände?« Verheugen lachte auf. »Mittlerweile müssten Sie mich doch schon kennen. Es macht mir keine Umstände, sondern großen Spaß.« Und dann fügte er augenzwinkernd hinzu: »Sie haben mich anfangs sicher für verrückt gehalten, nicht wahr?«
Lilly schob sich mit einem verschmitzten Lächeln eine Haarsträhne hinters Ohr. »Nur ein kleines bisschen. Aber hauptsächlich bin ich froh, Sie getroffen zu haben.«
Wenig später befanden sie sich auf dem Weg in den Dschungel. Die Straßen waren größtenteils sehr gut, hin und wieder mussten sie aber auch über zerfahrene Landwege fahren, auf denen sie kräftig durchgeschüttelt wurden. Nach einigen Stunden Fahrt erreichten sie schließlich Magek, das sich im Herzen des Gebirges befand, kurz hinter einem der größten Berge des Landes, dem Gunung Singgalang.
Das Dorf inmitten des Dschungels wirkte, als sei es einem Märchen entsprungen. Große, mit Büffelhorndächern gekrönte Häuser erhoben sich in all dem Grün, ihre unterschiedliche Färbung deutete auf verschiedene Familien hin.
Ganz verzaubert betrachtete Lilly die Bauten und auch die Pflanzen, die hier üppig wucherten und sicher jedes Botanikerherz höherschlagen ließen.
Setiawan wurde von seiner Familie sehr herzlich empfangen, fast so, als sei er jahrelang weg gewesen.
»Ein männlicher Minangkabau steigt im Ansehen seiner Familie, wenn er viel Zeit im Rantau , also im Ausland, verbringt. Sicher werden sie Setiawan eines Tages den Titel Datuk verleihen und ihn zum Sprecher der Familie machen. Momentan versieht sein Onkel immer noch dieses Amt, aber wie Sie sehen können, ist seine Beliebtheit sehr groß.«
»Möchte er denn diesen Titel haben?«
»Natürlich! Datuk zu sein bedeutet, dass man die Interessen der Familie in der Öffentlichkeit vertritt. Es ist für die Männer hier eine große Ehre, und die schlägt auch ein Computerfachmann nicht aus, zumal es ihn ja nicht im Geringsten in seiner Arbeit behindert.«
Nachdem alle Verwandten Setiawan und schließlich auch Verheugen herzlich in Empfang genommen hatten, wurde Lilly vorgestellt. Einige der Frauen sprachen sehr gut Englisch, und wie sie herausfand, hatten einige auch studiert. Wie das vor hundert Jahren war, wusste Lilly nicht, doch sie spürte, dass Roses Ängste vor den Minangkabau unbegründet gewesen waren. Der Familienverbund hätte sie sicher aufgefangen und ihr und ihrem Kind ein gemeinsames Leben ermöglicht.
Schließlich wurde Lilly auch vor die Stammmutter geführt, eine sehr alte Frau, die ihr als Indah vorgestellt wurde. Sie trug ein sehr farbenfrohes Gewand und zur Feier des Tages wie viele Frauen eine Kopfbedeckung, die ebenso wie die Häuser an Büffelhörner erinnerten, die allerdings weitaus weniger geschwungen und aus feinem Stoff gewickelt waren.
Lebhaft erkundigte sich die Frau nach dem Grund ihrer Reise, und Lilly berichtete, dass sie auf der Spur zweier Frauen war, deren Ursprung ebenfalls in diesem Dorf lag. Sie erzählte über Rose und Helen, doch sie merkte schon bald, dass die Leute nicht viel mit ihnen anfangen konnten.
»Könnten Sie sie bitte fragen, ob sie eine Frau namens Adit kannte? Das war Roses Mutter, die wieder in ihr Dorf zurückgekehrt ist.«
Setiawan, der als ihr Übersetzer fungierte, nickte, dann stellte er die Frage der alten Frau.
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