Der Mondscheingarten
eine Hand nicht bewegen konnte.
Als die Krankenschwester mitbekam, dass sie wach war, holte sie den diensthabenden Arzt, einen Mann mit freundlichen blauen Augen und graumeliertem Haar.
»Meine Geige, Doktor, was ist mit ihr geschehen?«, war die erste Frage, die Helen an ihn richtete.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Arztes, der sich als Dr. Fraser vorgestellt hatte. »Offenbar geht es Ihnen wieder gut genug, um an die Musik zu denken, wie?«
Helen entging nicht, dass sein Blick etwas mitleidig wurde. Sie ist zerstört worden, ging es ihr durch den Kopf, und obwohl sie das Instrument in ihren letzten Momenten vor dem Unfall gehasst hatte, so bereitete ihr der Gedanke, dass diese Kostbarkeit zerstört worden sein könnte, ein schmerzhaftes Ziehen in ihrer Brust. Oder waren das nur ihre gebrochenen Rippen? Nein, der Schmerz saß tiefer.
»Was Ihre Geige angeht, kann ich Sie beruhigen, die hat wie durch ein Wunder nur ein paar Kratzer abbekommen, und ein paar Saiten sind gerissen. Jemand an der Unfallstelle hat sie aufgesammelt und mit ins Krankenhaus geschickt. Es gibt doch noch ehrliche Menschen auf der Welt, und das zu diesen Zeiten …«
Helen stiegen Tränen in die Augen. Die Geige war heil geblieben. Auch wenn sie ihre Karriere durch den Unfall gefährdet hatte, würde sie wieder spielen können.
Allerdings legte sich ihre Freude auf die Musik bald, denn als der Gips von der Hand abgenommen wurde, merkte Helen schnell, dass etwas nicht stimmte. Ihre Daumen sowie Zeige- und Mittelfinger waren taub. Sie hatte zunächst angenommen, dass das von den Betäubungsmitteln kommen würde, doch Dr. Fraser war schockiert, als sie ihm von ihren Empfindungen berichtete.
Ein paar Tage später erschien der Arzt mit einem Röntgenbild in ihrem Zimmer. Seine bedrückte Miene ließ Helens Magen zusammenkrampfen. Bisher hatte sie sich selbst nicht gestattet, dass der schreckliche Gedanke Gestalt annahm – doch nun …
Schwer seufzend stellte sich Fraser vor ihr Bett und sagte für einige Augenblicke überhaupt nichts. Es schien, als wollte er die Verfassung seiner Patientin abschätzen, als wollte er prüfen, ob sie stark genug war für die Nachricht, die er ihr überbringen würde.
»Bei Ihrem Unfall wurden anscheinend auch Nerven in Mitleidenschaft gezogen«, begann er ein wenig zögerlich. »Ich scheue mich ein wenig davor, Prognosen abzugeben, doch ich fürchte …«
»Ich werde nie wieder spielen können, nicht wahr?« Helens Stimme schnitt durch ihre Kehle wie Glas.
Fraser seufzte. Sie konnte ihm deutlich ansehen, wie sehr er es sich wünschte, ihr etwas anderes sagen zu können. »Irgendwann …«, begann er, stockte aber gleich wieder, als müsse er um die richtigen Worte kämpfen. »Vielleicht werden Sie es eines Tages. Nerven finden manchmal wieder zusammen, heilen. Wenn Sie Ihre Hände trainieren, wird es Ihnen möglicherweise wieder gelingen.«
Die Worte der alten Frau, die behauptet hatte, ihre Großmutter zu sein, hallten wieder durch Helens Ohr. Und sie sah erneut das Bild. Bei der Begegnung in der Garderobe hatte es dazu geführt, dass Helen die alte Frau rausgeworfen hatte und schließlich in tiefer Verwirrung auf die Straße gelaufen war …
»Du bist die Tochter von Rose«, sagte die alte Frau, während ihre wachsamen Augen Helen musterten.
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Helen verwirrt. »Meine Mutter war Ivy Carter.«
Die alte Frau schüttelte den Kopf, richtete dann ihr Kopftuch. »Nein, Ivy Carter hat dich aufgenommen, weil deine Mutter dich für die Musik weggegeben hatte.«
Was redete die Alte da? Helen spürte ein seltsames Drücken in der Magengegend. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass Ivy ihre Mutter war. Und jetzt behauptete die Alte, dass eine Fremde ihre Mutter sei.
»Schau, hast du diese Frau schon einmal gesehen?« Mit zitternden Händen zog sie eine Fotoplatte aus ihrem Bündel. Das Bild war fleckig, die Platte leicht angerostet, doch die Frau darauf gut zu erkennen.
Helen schnappte nach Luft. Das war die Frau, die sie am Zaun angesprochen hatte! Die Frau, die ihr diese seltsame Geige geschenkt hatte. Nach dem Beben hatte sie sie nie wieder gesehen.
»Diese Frau hieß Rose. Rose Gallway. Ihren Namen kennen Sie sicher nicht …«
»O doch, den kenne ich!«, rief Helen erschrocken aus. »Sie war vor zwanzig Jahren eine der besten Soloviolinistinnen der Welt!«
Ein bitteres Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Alten. »Du bist Roses Kind«, sagte sie dann.
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