Der Mondscheingarten
Außerdem …« Sie stockte kurz, denn sie wusste, wie sehr sich ihre Mutter Enkelkinder wünschte.
»Außerdem gehört dein Herz der Musik«, vollendete ihre Mutter ihren Satz für sie. »Das hat es schon immer getan, selbst als du noch klein warst.«
Bevor Rose etwas sagen konnte, kam ihre Mutter zu ihr und bedeckte ihre Hand mit ihren zarten, weichen Fingern. »Keine Sorge, Rose, ich weiß, wie es sich anfühlt, einen Traum zu haben. Mein Traum war der, all den Verpflichtungen meiner Familie zu entkommen. Ich …«
Sie senkte den Kopf, schüttelte ihn dann. »Vielleicht hat sie recht, und ich sollte dir davon erzählen.«
»Was erzählen?«
Ihre Mutter seufzte schwer, ging dann, ohne zu antworten, zum Herd und zog den Kessel, in dem es mittlerweile kochte, herunter. Nachdem sie den Tee aufgegossen hatte, stellte sie zwei Tassen auf den Tisch.
Rose beobachtete ihre Mutter. Hatte sie sich immer schon so langsam bewegt? Waren ihre Bewegungen schon immer so zittrig gewesen?
Nein, das glaubte sie nicht. Irgendwas war an der alten Frau gewesen, das sie zutiefst verwirrt hatte.
»Mutter?«, hakte sie sanft nach.
»Ja, mein Kind, ich habe es nicht vergessen. Ich versuche nur, die Worte richtig zu ordnen. Eigentlich wollte ich, dass du nie mit diesem Wissen belastet wirst.«
»Welchem Wissen?« Rose verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Was sollte ihre Herkunft damit zu tun haben?
Nachdem ihre Mutter ihr und sich selbst eine Tasse Tee eingeschenkt hatte, nahm sie Platz und faltete die Hände auf der Tischplatte, als wollte sie beten.
»Du erinnerst dich vielleicht noch an den Besuch bei deiner Großmutter damals«, begann sie, und Rose bemerkte, dass ihre Stimme zitterte.
»Ich erinnere mich an den Garten«, antwortete Rose wahrheitsgemäß. »Und ein wenig auch noch an Großmutter. Aber das nur schwach.«
»Du warst damals drei Jahre alt. Ich kann verstehen, dass der Garten dir mehr im Gedächtnis geblieben ist, immerhin hat er einen ganz besonderen Zauber. Und es ist auch völlig klar, dass du nichts von den Gesprächen der Erwachsenen mitbekommen hast.«
So sehr sich Rose auch anstrengte, sie fand keine Erinnerung an irgendein Gespräch, das ihre Eltern mit ihrer Großmutter geführt hatten.
»Vielleicht täuscht dich deine Erinnerung auch noch in einem anderen Punkt: Ich war allein mit dir dort, ohne deinen Vater.«
Rose schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht.«
»Aber es war so. Ich war allein mit dir dort oben, weil deine Großmutter um eine Unterredung gebeten hatte. Ich wusste natürlich genau, worum es ging. Seit ich mit Roger nach Padang gegangen war, hatte ich sie nicht mehr gesehen. Sie ließ mich rufen, um mich an meine Pflichten zu erinnern. Damals war ich noch folgsam genug, um zu ihr zu gehen. Doch der Nachmittag endete im Streit. Während du die Wunder des Gartens genossen hast, fielen zwischen meiner Mutter und mir viele böse Worte.«
Während ihre Mutter sprach, tauchte plötzlich ein lang verdrängtes Detail aus Roses Erinnerung auf. Sie sah ein Haus, dessen Dach mehrere spitz aufragende Giebel besaß. Damals war es ihr wie ein Palast erschienen! Ihre Fantasie hatte dem Gebäude mit den Jahren ein goldenes Dach, Edelsteinwände, Türme und riesige Fenster gegeben, bis es rein gar nichts mehr mit dem eigentlichen Haus gemein hatte. Doch jetzt sah sie seltsamerweise das richtige Haus vor sich, mit sechs Spitzen, die wie übereinandergestapelte Halbmonde aussahen. Halbmonde aus braunen Schindeln, und anstatt der Edelsteinwände sah sie Schnitzereien auf rotem Grund, Fensterpfosten, die grün und rot bemalt waren.
Aber der Moment der Erinnerung war zu kurz. Als Adit weitersprach, verschwand das Bild aus Roses Kopf.
»Du erinnerst dich sicher auch nicht mehr daran, dass ich dich am Arm gepackt und mit mir gezerrt habe zum Wagen, auf dem dein Vater weit vor dem Dorf wartete, weil es ihm nicht gestattet war, die Grenze zu überqueren.«
Wenn Rose ehrlich war, erinnerte sie sich nicht. Aber der Einfachheit halber nickte sie.
»Und was bedeutet das nun für mich?«
»Dass du eines Tages auch Besuch von ihnen bekommen wirst. Sie werden versuchen, dich zu bewegen, in das Stammhaus zu ziehen, als Herrin über die Reisfelder unseres Volkes. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders schlimm erscheinen. Doch hast du zu dem Zeitpunkt bereits einen Mann, wirst du gezwungen sein, ihn zu verlassen und bei deinem Volk zu leben. Ihm würde bestenfalls gestattet werden, dich zu
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