Der Mondscheingarten
fragte sich Rose, dann antwortete sie auf Malaiisch: »Ich habe keine Angst. Aber halte ihn gut fest, sonst verschwindet er in irgendeiner Palme, und dann musst du ihn suchen.«
Der Mann starrte sie mit großen Augen an, unfähig, etwas zu entgegnen. Lächelnd wandte sich Rose um und ging weiter.
Schließlich wurde die salzige Brise, die sämtliche Straßen der Stadt einnahm, stärker und frischer. Das Haus ihrer Eltern befand sich in der Nähe einiger Lagerhäuser am Wasser, die ihr Vater für ein großes Handelshaus verwaltete. Es war nicht wie für die Einheimischen auf Sumatra auf Pfählen gebaut, sondern im Stil der Holländer, ein Haus mit dicken Steinwänden und einem weißen Anstrich, der schon immer mehr als einen Riss und einen dunklen Schatten aufgewiesen hatte.
Oftmals hatte sich Rose in der Schule von anderen Mädchen anhören müssen, wie leichtsinnig das war. Wenn es zu einer Überschwemmung kam – und die gab es des Öfteren auf der Insel –, würde es vielleicht zerstört werden: Doch so weit war es nicht gekommen.
Hocherfreut stellte Rose fest, dass es immer noch stand und sich nicht wesentlich verändert hatte. Vor einiger Zeit mussten die Fensterrahmen gestrichen worden sein, denn diesen Blauton kannte sie nicht. Die Dachschindeln hatten noch ein wenig mehr Moos angesetzt, aber sonst war alles beim Alten.
Mit vorfreudig pochendem Herzen näherte sie sich der Haustür. Ob Vater auch da ist?
Sie wusste, dass ihre Mutter eigentlich nur zum Abend hin das Haus verließ, um mit den Nachbarinnen zu sprechen. Die Stunden vorher verbrachte sie mit Arbeit. Sie fand immer etwas zu tun, obwohl sie mit ihrem Mann seit einiger Zeit allein lebte.
Als Rose eintrat, vernahm sie Stimmen, die sie zunächst nicht verstand. Sie unterhielten sich in der Sprache ihrer Mutter Adit, und zwar so schnell, dass Rose kaum ein Wort im Geist übersetzen konnte. Wie lange hatte sie diese Sprache nicht mehr gehört!
Ihre Mutter hatte fast immer, wenn sie allein waren, so mit ihr gesprochen. Seit ihrem Weggang von zu Hause hatte Rose aber fast nur noch Niederländisch und Englisch gesprochen, die Sprache, deren richtiger Gebrauch ihr von Mrs Kavanagh, der Englischlehrerin im Konservatorium, regelrecht eingebläut worden war.
Nach einer Weile jedoch hörte sie sich wieder ein und verstand ungefähr, was die Stimme, die nicht ihrer Mutter gehörte, sagte: »Ich war von Anfang an dagegen, dass du weggehst. Es entspricht nicht dem Adat, dass sich die Frau ins Haus ihres Mannes begibt.«
Adat. Was bedeutete dieses Wort noch mal? Rose überlegte kurz, dann fiel es ihr ein. Ihre Mutter hatte es ihr so erklärt, dass, bevor der Islam hier Fuß fasste, das Adat, was so viel hieß wie Gewohnheitsrecht, das Leben der Stämme geregelt habe. Von Geburt bis zum Tod, vom Errichten der Häuser bis zum Reisanbau, alles wurde durch das Adat geregelt.
»Aber das habe ich dir doch schon hundertmal erklärt«, entgegnete ihre Mutter seufzend. »Ich habe mich dafür entschieden, hier zu leben, mit ihm zusammen. So lange Zeit hast du mich in Ruhe gelassen, und jetzt, wo ich fast schon eine alte Frau bin, kommst du und fängst wieder damit an.«
Was meinte sie? Rose konnte sich nicht entsinnen, diese alte Frau jemals gesehen zu haben. Sie reckte den Kopf ein wenig vor und versuchte, das Gesicht der Besucherin zu erkennen. Es war braun wie eine Nuss, und die Furchen auf den Wangen wirkten wie ein ausgeprägtes Flussdelta. Sie musste schon mehr als achtzig Lebensjahre zählen.
»Es ist deine Pflicht, deinen Platz bei uns einzunehmen«, entgegnete die Alte jetzt wütender. »Das Adat schreibt es vor. Wer wären wir denn ohne unsere Ahnen? Du weißt, dass damit viele Ehren verbunden sind.«
»Ehren, die ich nicht will! Ich will bei meinem Mann bleiben, ich will ihn jeden Tag sehen und nicht nur von ihm besucht werden. Meinetwegen gebt einer anderen die Ehren und den Besitz, immerhin habe ich noch eine Schwester.«
Rose runzelte verwundert die Stirn. Ihrer Mutter sollten irgendwelche Ehren zuteilwerden? Ehren, die sie nicht wollte …
Natürlich wusste sie, dass ihre Mutter aus dem Norden gekommen war und früher bei ihrem Volk gelebt hatte. Doch mehr hatte sie ihr nie erzählt.
Plötzlich knarrte eine Diele unter ihrem Schuh.
»Ist da jemand?«, fragte ihre Mutter plötzlich. Nun konnte sich Rose nicht mehr länger verstecken.
»Mutter?«, fragte sie und schob dann den Vorhang beiseite, der das Hinterzimmer von der Küche trennte.
Die
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