Der Mondscheingarten
zierliche Frau, deren Haar mittlerweile einige silbrige Strähnen hatte, starrte sie zunächst an, als würde ein Geist vor ihr stehen.
»Rose!«, rief sie dann, sprang auf und stürmte zu ihrer Tochter. Vergessen schien die alte Frau, die auf sie eingeredet hatte.
Rose war mittlerweile gut einen Kopf größer als Adit, doch das hinderte ihre Mutter nicht, die Hände um ihr Gesicht zu legen und sie dann sanft zu sich herunterzuziehen. »Du bist wieder da! Meine Rose ist zu mir zurückgekommen!«
Eigentlich hätte Rose ihre Ehrerbietung durch einen Stirnkuss zeigen müssen, doch dazu ließ es ihre Mutter nicht kommen. Stattdessen zog sie sie mit erstaunlicher Kraft an sich und brach in Tränen aus. Rose ging es nicht viel besser. Ein Kloß schien in ihrer Kehle zu stecken, bis schließlich ein befreiendes Schluchzen sie davon erlöste. Eine ganze Weile standen sie so, hielten sich, versuchten, einander zu trösten. Auf die alte Frau achteten die beiden für einen Moment nicht mehr.
Doch die Alte brachte sich mit einem Räuspern wieder in Erinnerung.
Ihr gegenüber verneigte sich Rose nun, wie es sich gehörte, und auf einmal kam sie sich wieder vor, als sei sie zwölf Jahre alt und stünde kurz vor ihrer Abreise nach England.
Die Alte nahm ihre Geste ohne die geringste Rührung hin.
»Das ist also deine Tochter«, sagte sie in einem Tonfall, den Rose nicht deuten konnte. »Weiß sie, welcher Abstammung sie ist?«
Ihre Mutter warf der Alten einen warnenden Blick zu. »Sie weiß es. Aber sie hat sich für ein anderes Leben entschieden. Ein Leben jenseits der Insel. Ein modernes Leben.«
Rose sah verwundert zwischen beiden Frauen hin und her. Was sollte sie wissen? Sie konnte sich an kein Gespräch mit ihrer Mutter erinnern, in dem es um ihre Herkunft gegangen war. Oder um irgendwelche Ehren und Pflichten und alte, gespenstisch wirkende Frauen in seltsamer Tracht.
Die alte Frau schnaubte verächtlich. »Das Leben eines Menschen beruht nicht immer nur auf seiner eigenen Entscheidung. Das gilt für dich und auch für sie. An deiner Stelle würde ich beizeiten dafür sorgen, dass sie erfährt, welche Pflichten sie einst haben wird. Tust du das nicht, ist es möglich, dass dein Kind ins Unglück gerät und dass sie ihre gesamte Familie mit sich nimmt.«
Damit wandte sie sich zum Gehen.
Rose starrte ihr hinterher. Was war das für ein seltsames Weib? Warum drohte sie ihr mit Unglück?
Als die Frau hinter dem Vorhang verschwunden war, blickte Rose ihre Mutter an. Diese wirkte wie erstarrt. Ihr Mund bewegte sich ganz schwach, ein Ton kam aber nicht heraus.
»Was war das für eine Frau, Mutter?«, fragte Rose, nachdem sie sich von ihrer Verwunderung ein wenig erholt hatte.
»Eine alte Bekannte«, antwortete ihre Mutter ein wenig abwesend, doch dann schien sie in die Wirklichkeit zurückzukehren. »Ich freue mich so sehr, dich wiederzusehen, mein Kind, du hast mir keine Nachricht geschickt, dass du kommen wirst.«
»Es ist alles so schnell gegangen, ich habe eine Einladung vom Gouverneur bekommen, um bei einem Empfang zu spielen. Und jetzt bin ich hier.«
»Darüber freue ich mich. Es ist schön, dass du trotz allem deine Eltern nicht vergisst. Immerhin bist du jetzt eine bekannte Dame.«
»Ich bin nur eine einfache Musikerin, Mutter, das weißt du doch. Sind meine Briefe und Pakete bei dir angekommen?«
»Allesamt, und ich habe jeden aufgehoben. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dir zurückschreiben zu können, aber wenn du unterwegs bist, würden dich meine Briefe gar nicht erreichen.«
Wenn Rose ehrlich war, hatte sie Post von ihrer Mutter schmerzlich vermisst. Damals, als sie noch im Konservatorium war, hatte ihre Mutter ihr öfter geschrieben. Das war mittlerweile jedoch unmöglich geworden, da sie täglich an einem anderen Ort war und zwar Nachrichten und Briefe verschicken, aber nicht empfangen konnte.
»Meine Tournee ist in einem halben Jahr beendet«, erklärte Rose. »Dann werde ich bei meinem Agenten darauf bestehen, dass ich für längere Zeit bei euch bleiben kann.«
»Du solltest die Zeit besser nutzen und dir von einem jungen Mann den Hof machen lassen«, erklärte ihre Mutter lachend, während sie zum Herd ging, um Teewasser aufzusetzen.
»Ich wüsste nicht, wer mir den Hof machen sollte«, entgegnete Rose. »Während meiner Auftritte lerne ich nur selten Männer kennen, die mir gefallen. Meist sind sie alt und lüstern und nicht gerade geeignet, um mit ihnen eine Familie aufzubauen.
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