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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Aufgabe war es, die Blutung zu stoppen: Der Doktor hatte gesagt, ihr Geruchssinn sei sehr fein. Ich schlüpfte aus meiner Jacke, zog das Hemd aus und wickelte es mehrere Male um meinen Arm. Danach zog ich, langsam und linkisch, wie ein Kind, das gerade erst lernt, sich anzukleiden, die Jacke wieder an.
    So weit, so gut , sagte ich mir, um meine ermattenden Lebensgeister aufzumuntern. Das macht zwei Kerben in deinem Gürtel, und das in einer einzigen Nacht! Jetzt hoch zum Bau. Du wirst schon irgendeinen Weg zu den anderen zurück finden. Nur Mut, Will Henry, nur Mut! Du kannst hierbleiben und verbluten, oder du kannst dich aufraffen und einen Rückweg suchen. Also, wie hättest du es gerne, Will Henry?
    Ich kroch vorwärts, bis ich mit der Hand an den Körper meines Opfers stieß. Ich kletterte darüber hinweg, dann stand ich auf und begann mit dem Aufstieg, den linken Arm gegen den Bauch gepresst, den rechten ausgestreckt, um nach der Wand zu tasten. Ich trat so leise auf, wie ich konnte, atmete flach und zwang mich dazu, es langsam angehen zu lassen, blieb hier und da stehen, um mein Ohr in die Dunkelheit zu richten und nach Lauten zu horchen, die die Anwesenheit eines Anthropophagen offenbaren mochten. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich durch den Schacht nach unten gefallen war; es schien mir, wie gesagt, so lang gedauert zu haben wie Luzifers Sturz. Die Zeit vergeht anders, wenn man eines seiner Sinne beraubt ist, und alles andere wird von den anderen Sinnen verstärkt: Jeder Atemzug wird zu einem Donnern, jeder scharrende, kratzende Schritt dröhnt wie eine Kanonade. Ich konnte sein Blut riechen und meins. Der Schmerz in meinem Arm warunerträglich. Der Geschmack seiner Infektion brannte auf meiner Zunge.
    Weiter schleppte ich mich, immer weiter, ständig aufwärts, und kam dennoch dem Ziel nicht näher. Bisweilen rutschte meine rechte Hand ins Leere, einen Verbindungstunnel oder vielleicht eine natürliche Spalte, die von einer gütigeren Naturgewalt geformt worden war. In dem Durcheinander unseres Sturzes waren wir irgendwie in einer Nebenabzweigung des Hauptgangs gelandet – war ich jetzt vom Kurs ab, tappte ich blindlings von Dunkelheit zu Dunkelheit und hatte mich hoffnungslos verirrt?
    Bestimmt, dachte ich, während ich anhielt und mich benommen gegen den kühlen, feuchten Stein lehnte, bestimmt hätte ich inzwischen den Ausgangspunkt erreicht. Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange war ich schon marschiert, und worauf marschierte ich jetzt zu? Der Gedanke lähmte mich. Dann dachte ich: Na ja, das könnte zwar sehr wohl der Fall sein, Will, aber du gehst immer noch nach oben, und nach oben ist die Richtung, in die du gehen willst. Vielleicht führte dieser Tunnel direkt an die Oberfläche. Ob es wohl noch regnete?, fragte ich mich. Oh, das Gefühl des Regens auf meinem Gesicht! Den süßen Zug kühler Frühlingsluft bis ganz auf den Grund meiner Lunge einzuatmen! Die Sehnsucht war beinah so unerträglich wie die Schmerzen.
    Also schleppte ich mich unermüdlich weiter in diesem lichtlosen Labyrinth, klammerte mich an die Logik meiner Wahl – dass sich aufwärts zu bewegen herauszukommen bedeutete – und an die Erinnerung an Regen und Sonnenschein und warme Brisen und all solche tröstlichen Dinge. Diese Erinnerungen schienen zu einer anderen Zeit zu gehören, zu einer längst vergangenen Ära, sogar zu einer anderen Person; ich kam mir vor, als wäre ich mit den Erinnerungen eines anderen Jungen aus einer anderen Zeit und einem anderen Ort durchgebrannt, eines Jungen, der sich nicht verirrt hatte, der nicht gegen blinde Panik ankämpfte und dem vor Angst nicht fast das Herz stehen blieb.
    Denn jetzt war es unverkennbar: Der Weg verlief eben. Ich bewegte mich nicht mehr länger aufwärts. Ich hatte irgendwie eine falsche Abzweigung genommen.
    Ich blieb stehen, lehnte mich gegen die Wand und hielt meinen verletzten Arm fest. Er pochte im Takt mit meinem Herzschlag. Außer meiner beschleunigten Atmung war kein Laut zu hören. Es gab kein Licht. Sämtliche Instinkte bestürmten mich, um Hilfe zu rufen, aus vollem Halse zu schreien. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, seit ich in den Bau gefallen war, aber bestimmt hatten der Doktor und die anderen sich inzwischen einen Weg durch das Hindernis gegraben. Sie mussten irgendwo sein, vielleicht ganz in der Nähe, hinter der nächsten Biegung (falls es eine nächste Biegung gab), der Schein ihrer Lampen gerade außerhalb meiner Sichtweite.

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