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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Bild mir so präsentiert, wie der jeweilige Betrachter mich wahrnahm – der eine als Freund, der andere als Beute?
    Als ich den letzten Packen mit Ausrüstung in die Karre hatte fallen lassen, erschienen der Doktor und der Grabräuber, die den Leichnam des Mädchens zwischen sich trugen, der immer noch in sein behelfsmäßiges Leichentuch aus Bettwäsche gewickelt war. Ich ging ihnen rasch aus dem Weg und bewegte mich vorsichtig auf das warme und tröstliche Licht zu, das durch die offene Tür strömte. Eine bleiche Hand ragte aus dem weißen Faltenwurf heraus, den Zeigefinger ausgestreckt, als zeigte sie auf den Boden.
    »Schließ die Tür ab, Will Henry!«, rief der Doktor mir leise zu, obwohl diese Anweisung schwerlich nötig war. Ich war auf halbem Weg zur Tür und hatte den Schlüssel schon in der Hand.
    Es war kein Platz für mich auf dem kleinen Sitz vorn auf der alten Karre, also kletterte ich hinten zu der Leiche hinein. Der Kopf des alten Mannes schnellte herum, und als er mich neben dem eingehüllten Mädchen kauern sah, runzelte er die Stirn. Er warf dem Doktor einen vernichtenden Blick zu.
    »Der Junge kommt mit?«
    Dr. Warthrop nickte ungeduldig. »Natürlich kommt er mit.«
    »Bei allem Respekt, Doktor, aber das ist keine Angelegenheit für ein Kind.«
    »Will Henry ist mein Assistent«, entgegnete der Doktor lächelnd. Er tätschelte mir väterlich den Kopf. »Der äußeren Erscheinung nach vielleicht ein Kind, aber reif über seine Jahre hinaus und zäher, als er dem nicht vertrauten Auge scheinen mag. Seine Dienste sind mir unentbehrlich.«
    Sein Ton machte deutlich, dass er keinen Widerspruch von jemandem wie Erasmus Gray dulden würde. Der alte Mann sah erneut nach hinten auf meine zusammengekauerte Gestalt, wie ich in der Frühlingskälte mit an die Brust gezogenen Knien zitternd dahockte, und ich vermeinte Mitleid in seinen Augen zu erkennen, ein tiefes Einfühlungsvermögen für meine Misere, und nicht nur für die augenblickliche Misere, die in dem Zwang lag, meinen Vormund auf dieser dunklen Mission zu begleiten. Vielleicht ermaß er intuitiv, wie hoch der Preis war, den es kostete, Dr. Pellinore Warthrop »unentbehrlich« zu sein.
    Und was mich betraf, so erinnerte ich mich daran, wie ich kein Jahr zuvor meinen Vater, der jetzt ironischerweise dieselbe Nachbarschaft teilte wie das tote junge Mädchen, das neben mir lag, naiv und verzweifelt angefleht hatte: Ich will mit dir kommen. Bitte, bitte nimm mich mit!
    Der alte Mann drehte sich weg, aber nicht ohne ein missbilligendes Schnalzen und ein Schütteln seiner alten Glatze. Er ruckte an den Zügeln, die Karre machte einen Satz nach vorn, und unsere finstere Pilgerfahrt begann.
    Nun, verehrter Leser, manches Jahr ist vergangen seit den schauerlichen Ereignissen dieser furchtbaren Frühlingsnacht des Jahres 1888.
    Doch in all diesen Jahren ist kaum ein Tag vergangen, ohne dass ich mit Verwunderung und stets wacher Angst an sie gedacht hätte, mit der schrecklichen Angst eines Kindes, wenn der erste Same der Desillusion gepflanzt wird. Wir können sie hinausschieben. Wir können uns mit all unserer Kraft darum bemühen, die bittere Ernte hinauszuzögern, doch der Tag des Dreschens graut immer.
    Die Frage verfolgt mich immer noch und wird es wohl weiter, nehme ich an, bis ich mich bei unserer endgültigen Wiedervereinigung zu meinen Eltern gesellen werde. Wenn der Doktor gewusst hätte, welche Schrecken uns erwarteten, nicht nur in jener Nacht auf dem Friedhof, sondern auch in den kommenden Tagen, hätte er dann trotzdem auf meiner Gesellschaft bestanden? Hätte er trotzdem verlangt, dass ein bloßes Kind so tief in den Brunnen menschlichen Leidens und Opfers eintaucht – eine buchstäbliche See des Blutes? Und falls die Antwort auf diese Frage ja lautet, dann gibt es furchteinflößendere Monstrositäten auf der Welt als Anthropophagen. Monstrositäten, die, mit einem Lächeln und einem tröstenden Tätscheln des Kopfes, bereit sind, ein Kind auf dem Altar ihres Hochmuts und ihrer maßlosen Ambitionen zu opfern.

DREI
    »Es scheint, ich muss meine ursprüngliche Hypothese noch einmal überdenken«

    Der Old-Hill-Friedhof lag auf einer Anhöhe am Stadtrand von New Jerusalem hinter schwarzen schmiedeeisernen Toren und einer Steinmauer, die dazu vorgesehen war, von genau jenem Tun abzuschrecken, welches Erasmus Gray in der Nacht zuvor an unsere Tür geführt hatte. Hier waren Kolonisten aus den frühesten Tagen der Siedlung zur letzten Ruhe

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