Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
seinem Schoß; der Doktor hatte sich vorgebeugt und schaute angestrengt und unruhig in die Bäume. An manchen Stellen drängten sie sich auf den Weg und wölbten ihre wuchtigen Äste über uns, und an diesen Stellen warf der Doktor jedes Mal den Kopf in den Nacken und starrte nach oben ins Laubwerk.
»Augen auf jetzt, Will Henry!«, flüsterte er mir über die Schulter zu. »Diese Geschöpfe sind vollendete Kletterer. Sollte sich eins herunterfallen lassen, dann geh auf seine Augen los, wo es am verwundbarsten ist.«
Ich zog einen Holzpflock aus dem Bündel und folgte seinem nach oben gerichteten Blick. Meine Einbildungskraft malte in die Dunkelheit, die in dem Astgewirr über mir herrschte, humanoide Silhouetten mit triefenden Reißzähnen, die sich mit riesigen Armen an die uralten Äste klammerten und mit schwarzen, bösartig funkelnden Augen auf uns herabstarrten.
Wir näherten uns der östlichen Begrenzung des Friedhofs – wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich schemenhaft die Quermauer in der Düsterkeit ausmachen –, als Erasmus die Karre auf einen winzigen ausgefahrenen Pfad lenkte, der sich durch die Bäume schlängelte und ins Innere des Friedhofs führte. Unser Vorüberkommen scheuchte irgendein Waldtier auf, vielleicht ein Eichhörnchen oder einen Vogel, und als es im Unterholz scharrte und raschelte, schwenkte der Doktor den Revolver herum, aber da war nichts, worauf er hätte zielen können, nur Dunkelheit.
»Der Feind!«, hörte ich ihn flüstern.
Wir verließen die Bäume und kamen auf eine mit Grabsteinen übersäte Lichtung; der Marmor schimmerte seidig im Sternenlicht. Nach einem halben Dutzend Yards brachte Erasmus uns zum Stehen. Ich erhob mich aus meiner Kauerstellung und sah mir die nächste Grabplatte an, einen großen Stein, den der Name der Familie schmückte, der die Parzelle gehörte: BUNTON.
»Da ist es«, sagte der alte Mann und zeigte mit einem schwieligen Finger auf den Grabstein, der am dichtesten am Pfad stand. »Das da, Doktor.«
Dr. Warthrop sprang von der Karre und schritt zur Grabstätte. Er umkreiste die Parzelle einmal ganz, wobei er seinenBlick forschend über den Boden wandern ließ und unverständlich vor sich hin murmelte, während Erasmus Gray und ich wie angewurzelt auf der Karre blieben und ihn beobachteten.
Mein Augenmerk wurde auf den Stein gelenkt, um den er lief, und auf den Namen, der darin eingeätzt war. ELIZA BUNTON. GEBOREN 7. MAI 1872. GESTORBEN 3. APRIL 1888. Einen Monat vor ihrem sechzehnten Geburtstag, hinweggerafft in der ersten zarten Blüte ihrer sich entfaltenden Weiblichkeit von der gleichgültigen und gleichmachenden Umarmung des Todes, nur um in eine viel weniger gleichgültige Umarmung gezerrt zu werden für eine Bestimmung, die noch abscheulicher als selbst die endgültige Unverschämtheit des Todes war. Binnen vierzehn Tagen hatte Eliza Bunton sich von des Todes jungfräulicher Braut in den Inkubator für die Brut eines Monsters verwandelt. Ich richtete meinen Blick von dem kalten Stein auf die kalte Gestalt unter dem weißen Laken, und es tat mir im Herzen weh, denn plötzlich war sie keine namenlose Leiche, kein anonymes Opfer mehr. Sie hatte einen Namen – Eliza – und eine Familie, von der sie geliebt worden sein musste, denn sie hatten sie in ihr feinstes Gewand gekleidet und mit einer Halskette aus den reinsten Perlen bestattet, sogar ihre üppigen Locken mit äußerster Sorgfalt hergerichtet, wo es doch die ganze Zeit ihr Schicksal war, nicht in ungestörter Ruhe zwischen ihren Glaubensgenossen zu liegen, sondern gefressen zu werden.
Erasmus Gray muss meine Betrübnis gespürt haben, denn er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Na, komm, Kind! Na, komm!« Sein Ton ging jäh von Mitgefühl in Entrüstung über. »Er hätte dich nicht mitnehmen dürfen. Ein finsteres und schmutziges Geschäft ist das; kein Platz für einen gottesfürchtigen Christen, erst recht nicht für ein Kind.«
Ich schüttelte seine Hand von meiner Schulter ab. Ich wollte kein Mitleid von einem Mann seines schändlichen Standes.
»Ich bin kein Kind!«, sagte ich.
»Kein Kind, wie? Dann haben diese alten Augen aus Erasmus Gray einen Lügner gemacht! Lass mich dich doch einmal genauer betrachten …«
Er hob meinen ramponierten kleinen Hut hoch und blinzelte auf mein Gesicht herab, wobei ein Lächeln seine Lippen umspielte und ich, so komisch war seine Miene ernsten Studiums, mich dabei ertappte, wie ich ungewollt
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