Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
Gewebestückchen und Blut und anderen biologischen Flüssigkeiten, über deren Natur und Ursprung ich keine Lust zu spekulieren hatte.
Es gab jedoch auch andere Zeiten, wenn keine nächtlichen Untersuchungen nötig waren. Oft ertönte dann, lange nach der Geisterstunde, wenn ich endlich in den dringend benötigten Schlummer driftete, hart und schnell sein Klopfen an der Leiter, oder er schnellte, falls das seine Weckwirkung verfehlte, durch die Öffnung empor und schlug mit der Faust krachend gegen die schräge Decke, wobei er lauthals rief: »Auf, auf, auf, Will Henry! Mach fix! Ich brauche dich sofort unten!« Woraufhin ich stets meine müden Knochen die Treppe hinunterschleppte, für gewöhnlich zu dem Ort, den ich am meisten fürchtete, dem Keller, wo ich meine müde Gestalt auf den Hocker stützte, dieweil er mir einen Brief oder die neueste Abhandlung für die Gesellschaft der Monstrumologen diktierte, eine Arbeit, die, soweit es mein schlafbedürftiges Hirn betraf, bis zum folgenden Tag hätte warten können.
Manchmal jedoch zerrte er mich auch ohne jeden ersichtlichen Grund aus dem Bett. Dann saß ich gähnend auf dem Hocker, während er sich bis lange nach Sonnenaufgang über irgendein Stückchen esoterisches Wissen oder den jüngsten wissenschaftlichen Durchbruch verbreitete. Wenngleich ich das damals verwirrend fand – und lästig, denn er schaffte es immer, mich genau dann aufzuwecken, wenn gerade ein langer und erbitterter Kampf mit Somnus gewonnen worden war –, kam mir schließlich der Gedanke, dass der Dienst, den ich damit leistete, ihm so unentbehrlich war wie jeder andere, vielleicht sogar noch mehr als jeder andere, vielleicht der wichtigste Dienst von allen war: ihm die furchtbare Bürde seiner Einsamkeit zu erleichtern.
Er hatte den Weg zwischen den Regalen und dem langen Tisch schon einige Male mit den Armen voller Zeitungen zurückgelegt, bevor mir zu Bewusstsein kam, dass er vielleichtmeine Hilfe brauchte. Aber in dem Moment, als ich ihm zu Hilfe eilen wollte, rüffelte er mich und befahl mir, Briefpapier und einen Füllfederhalter zu holen. Er fuhr damit fort, die Zeitungen zu überfliegen – insbesondere die Todesanzeigen – und sich beim Diktieren Notizen zu machen, wobei er gelegentlich sowohl Zeitungspapier als auch Notizbuch beiseitelegte, um eine Markierung auf der Karte anzubringen. Die Punkte, die er überlegt zeichnete, fingen an, sich zusammenzuballen und sich im Großen und Ganzen von West nach Ost zu bewegen, auf die Atlantikküste zu. Der Zweck dieses Planzeichnens lag auf der Hand: Der Doktor verfolgte eine Wanderung.
Der erste Brief, den ich aufnahm, war an die Gesellschaft gerichtet; er informierte sie über seine Entdeckung und lieferte eine beschnittene geschichtliche Entwicklung der Ereignisse im Anschluss daran, wie der Grabräuber das große Männchen gefunden hatte, das mit den sterblichen Überresten Eliza Buntons begraben war. Was er nicht erwähnte, war unsere wilde Flucht oder unser Entkommen um Haaresbreite; vielleicht hatte er das Gefühl, es würde ihn feige aussehen lassen, doch ich vermute, es hatte mehr damit zu tun, dass er seine Reputation schützen und die schmerzhafte Wahrheit verschleiern wollte, dass er mit seiner ursprünglichen Hypothese komplett falschgelegen hatte. Er fügte ein Postskriptum hinzu, worin die Gesellschaft davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass er seine Nekropsienotizen, sobald sie kopiert waren, und das ausgewachsene Exemplar per Eilboten nachsenden werde.
Während des Diktierens arbeitete er methodisch weiter, machte sich Vermerke in seinem Notizbuch und teilte die durchgegangenen Zeitungen in zwei Stapel. Es war eine gewaltige Aufgabe, denn vor ihm lagen beinahe drei Jahre an Presseberichten. Ab und zu unterbrach er sich mit einem jähen Schrei oder einem Ausruf, der zu guttural war, als dass ich ihn hätte interpretieren können. Ein andermal lachte er humorlos und schüttelte reuig den Kopf, während er wild in sein Büchlein kritzelte.
»Jetzt noch einer, an Dr. John Kearns, per Adresse Smithsonian Institution, Washington, D. C.«, wies mich der Doktor an. »Lieber Jack«, begann er und hielt dann inne, indes seine Stirn sich furchte und er auf der Unterlippe kaute. »Sollte Stanley sein, offensichtlich«, murmelte er vor sich hin. »Stanley ist der wahre Experte, aber Stanley ist in Buganda … Selbst wenn er unverzüglich aufbräche, könnte die Angelegenheit vorbei sein, bis das Schiff die Bermudas
Weitere Kostenlose Bücher