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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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nur einen Tagesritt weit von der Küste entfernt, und bald war das Pergament mit Dutzenden sich kreuzender Linien überzogen, die mich an das komplizierte Muster eines Spinnennetzes erinnerten. Ich war mir nicht ganz sicher, dachte mir aber, dass er gewiss versuchte herauszufinden, welche Route die Monster nach New Jerusalem genommen hatten.
    Es kam mir, ich gestehe es ein, äußerst sonderbar vor, dass er, nachdem wir mit knapper Not entkommen waren, kostbare Zeit auf eine interessante, aber zwecklose Übung verschwenden sollte. Welche Rolle spielte es, wo diese Dinger herkamen oder wie es kam, dass sie dort waren? Wäre unsere Zeit nicht nützlicher damit verbracht gewesen, alle waffenfähigen Männer in der Stadt für eine improvisierte Jagd zusammenzutrommeln? Die Anthropophagen waren frei unter uns – und offensichtlich hungrig. Das Bild von Elizas Haar, das sich aus dem schnappenden Rachen des gierigen Anthropophagen ergoss, ging mir nicht aus dem Sinn. Wieso zauderten wir, indem wir alte Bücher lasen, Landkarten studierten und Messungen vornahmen, während ein Rudel von dreißig Besuchern aus einem Albtraum durch die Landschaft streifte? Wir hätten die Einwohner aufwecken sollen, damit sie vor dem Ansturm der Kreaturen fliehen oder in aller Eile Barrikaden gegen die kommende Belagerung errichten konnten. Der Zeitpunkt, das Rätsel ihrer Anwesenheit in New Jerusalem zu lösen, war nach ihrer Ausrottung, nicht jetzt, wo unser aller Überleben auf desMessers Schneide stand. Wer mag wohl sonst noch , fragte ich mich, heute Nacht auf dieselbe entsetzliche Art wie Erasmus Gray umkommen, während der Doktor seine Striche zieht und sein Griechisch liest und in sein kleines Buch schreibt? Wer sonst noch wird auf dem Altar der Wissenschaft geopfert werden? Wenn solche Fragen einem zwölfjährigen Jungen durch den Kopf gingen, dann sicher auch einem Mann von Warthrops Intellekt.
    Ich dachte über dieses Rätsel nach und erinnerte mich dabei an seine früheren Ermahnungen bezüglich der Gefahren der Furcht. War es das? War dieser Mann, der größte Monstrumologe seiner Zeit, von Furcht überwältigt, und waren diese albernen (meiner Ansicht nach) Studien zu dieser nächtlichen Stunde ein Mittel, um der nackten Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen, die die Umstände ihm aufgezwungen hatten? Kurz gesagt, hatte er, der große Pellinore Warthrop, Angst?
    Indem ich mir sagte, dass es nicht zu meiner eigenen selbstsüchtigen Tröstung, sondern für meine Mitmenschen war, rückte ich schließlich mit der Sprache heraus. Für jene schlummernden Unschuldigen, die nichts von der tödlichen Gefahr mitten unter ihnen ahnten, für den alten Mann, der in seinem Bett schlief und den zarten Säugling, der friedlich in seiner Wiege lag, machte ich endlich den Mund auf.
    »Dr. Warthrop, Sir?«
    Er unterbrach seine Arbeit nicht. »Was ist, Will Henry?«
    »Soll ich jetzt den Wachtmeister holen?«
    »Den Wachtmeister? Wozu?«
    »Um – um zu helfen«, stotterte ich.
    »Wem helfen? Wobei?«
    »Uns helfen, Sir. Mit dem … dem Befall …«
    Er winkte abweisend in meine Richtung, nach wie vor vertieft in seine Messungen. »Die Anthropophagen werden heute Nacht nicht wieder fressen, Will Henry«, sagte er. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn, als er sich mit vor Konzentration geschürzten Lippen über die Karte beugte.
    Ich hätte das Thema fallen lassen, wäre da nicht die Torheitseiner ursprünglichen Hypothese gewesen: die Aussage, dass sich nicht mehr als ein oder zwei der Menschenfresser in der Umgebung New Jerusalems versteckt halten konnten, ein Irrtum, der einen Mann das Leben gekostet hatte und der damals mit derselben absoluten Überzeugung verkündet worden war.
    Deshalb bedrängte ich ihn wie noch niemals zuvor.
    »Woher wissen Sie das, Sir?«, fragte ich.
    »Woher weiß ich was?«
    »Woher wissen Sie, dass sie nicht wieder angreifen werden?«
    »Weil ich lesen kann.« Eine Spur von Verdruss hatte sich in seine Stimme eingeschlichen. Er tätschelte den am nächsten befindlichen Bücherstapel. »Zweitausend Jahre Beobachtung stützen meine Schlussfolgerung, Will Henry. Lies Herodot; studiere Plinius, die Schriften Walter Raleighs. Anthropophagen sind Schlingfresser: Sie jagen, tun sich an der Beute gütlich und ruhen sich dann aus – Tage, manchmal Wochen –, bevor sie wieder töten.«
    Er sah zu mir herüber. »Was willst du mir zu verstehen geben, Will Henry? Dass es meine Schuld ist? Dass das Blut des

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