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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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emporschwang – oder in Tiefen hinabstürzte –, wie man sie nur selten außerhalb griechischer Dramen oder der Tragödien Shakespeares vorfindet? Er redete nicht zweideutig mit mir. Er verbrämte seine Worte nicht mit tröstlichen Plattheiten oder angestaubten Klischees. Er hatte mir das Leben gerettet, weil mein Leben wichtig für ihn war. Er hatte mir das Leben um seinetwillen gerettet, zur Förderungseiner Ambitionen. So wurzelte selbst seine Barmherzigkeit in seinem Ego.
    »Danke mir, Will Henry«, sagte er leise mit sanfter, aber nachdrücklicher Stimme, wie ein geduldiger Lehrer zu einem aufsässigen Schüler. »Danke mir, dass ich dir das Leben gerettet habe.«
    Ich murmelte das Verlangte und sah dabei auf meine Füße. Obwohl meine Worte wenig mehr als ein Flüstern waren, schien er zufriedengestellt. Er klopfte mir auf die Schulter, drehte sich weg und durchmaß mit seinen langen Schritten schnell den Raum.
    »Ich werde ihn nicht vergessen!«, rief er mir über die Schulter zu. Ich dachte, er spräche immer noch von meinem Vater; er tat es nicht. »Auch wenn seine Beweggründe moralisch nicht ganz einwandfrei gewesen sein mögen, so hat doch seine Entdeckung fraglos Leben gerettet und vielleicht eine völlig neue Spezies ans Licht gebracht. Ich werde der Gesellschaft vorschlagen, sie ihm zu Ehren zu benennen: Anthropophagi americanis erasmus. «
    Das schien mir eine frivole Entschädigung zu sein, aber ich hielt den Mund.
    »Denn wenn meine Vermutungen zutreffend sind, ist dies genau das, was wir aufgedeckt haben: Eine Generation von Anthropophagen, die sich hervorragend an ihre neue Umgebung angepasst hat, eine Umgebung, die sich radikal von ihrem heimatlichen Afrika unterscheidet. Neuengland ist nicht die Savanne, Will Henry. Ha! Weit davon entfernt!«
    Während er sprach, stöberte er in den Regalen nach Zeitungen. Der Monstrumologe hatte Dutzende von Tageszeitungen, Wochen- und Monatsschriften abonniert, von der New Jerusalem Gazette bis zum Globe , von der New Yorker und Londoner Times bis zur kleinsten Publikation aus dem winzigsten Weiler. Jeden Dienstag wurde ein großer Stapel vor unserer Haustür abgeladen und (von mir) in die Bibliothek getragen, wo die Zeitschriften alphabetisch und nach Erscheinungsdatum (vonmir) sortiert wurden. Schon früh in meiner Lehrzeit war es mir eigenartig vorgekommen, dass, bei all den Zeitungen, die er abonniert hatte, ich ihn nie auch nur einen einzigen Zeitungskopf hatte lesen sehen. Trotzdem schien er jederzeit völlig vertraut mit den Ereignissen des Tages, vom Beeindruckenden bis zum Nutzlosen. Er konnte sich zum Beispiel stundenlang über das Auf und Ab an der Börse oder die neueste Mode aus Paris auslassen. Er musste sie, kam ich zu der Überzeugung, nachts gelesen haben, nachdem ich mich in meine kleine Dachkammer zur Ruhe begeben hatte, und eine Zeit lang war ich überzeugt, gestützt auf diesen oder andere Beweise, dass der Monstrumologist nicht schlief. Ich hatte es nie erlebt, nicht einmal während jener Perioden intensiver Melancholie, die vierzehn Tage oder länger dauerten, wenn er sich in sein Bett flüchtete und nichts ihn in seiner Malaise trösten konnte.
    In den ersten Monaten meines Lebens in der Harrington Lane hatte mich der Schlaf geflohen. Ich hatte mich nach ihm gesehnt und ihn gleichzeitig gefürchtet, denn Ruhe hatte ich nötig gehabt, aber die Albträume, jene entsetzlichen Wiedergeburten der Nacht, in der meine Eltern umgekommen waren, nicht. Viele dunkle Stunden pflegten zu verstreichen, ehe die Erschöpfung mich endlich übermannte, und mitunter stieg ich leise die Leiter hinab und warf einen verstohlenen Blick in sein Zimmer im ersten Stock, nur um das Bett leer vorzufinden. Als Nächstes schlich ich mich dann zur Treppe und schaute hinunter ins Erdgeschoss, wo manchmal das Licht aus der Bibliothek die Diele erhellte oder aus der Küche das schwache Klappern von Töpfen und Pfannen oder das Klirren von Silber auf Porzellan nach oben stieg. Am häufigsten jedoch war der Doktor in seinem Laboratorium, wo er in tiefster Nacht mit seinen Phiolen und Probengläsern und Schubladen voller Knochen und getrockneten Eingeweiden herumhantierte, bis er dann bei Tagesanbruch die Treppe zur Küche hochstieg, sich gemeinsam mit der Sonne erhob aus jenem Abgrund der Eigenartigkeiten und der Fäulnis, um unsere Morgenmahlzeit zuzubereiten(oder, was häufiger vorkam, hastig zu essen, was ich zubereitet hatte), der Arbeitskittel gesprenkelt mit

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