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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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erreicht … Aber wer sonst, wenn nicht Kearns?« Er setzte seinen Vortrag mit einer Spur von Widerwillen fort. Ich hatte noch nie von diesem John Kearns gehört; ich nahm an, dass es sich um einen Monstrumologenkollegen oder einen auf einem verwandten Gebiet der Naturgeschichte Praktizierenden handelte. Ich lag in beiden Punkten falsch. John Kearns war kein Monstrumologe und kein Forscher – wenigstens nicht der Naturgeschichte. Er war viel mehr und – wie ich zu meinem Leidwesen noch herausfinden sollte – viel weniger.
    Der Brief an Dr. John Kearns war kürzer als das Sendschreiben an Warthrops Monstrumologenkollegen und lautete wie folgt:
    Lieber Jack,
    eine möglicherweise neue Spezies von Anthropophagen hat sich in der Umgebung von New Jerusalem niedergelassen. Ein Rudel von fünfundzwanzig bis dreißig voll entwickelten Exemplaren, größer und wesentlich aggressiver als ihre afrikanischen Verwandten. Ihre unschätzbaren Dienste werden benötigt. Können Sie sofort kommen? Expedition voll finanziert und sämtliche Spesen bezahlt.
    Ich hoffe, dieser Brief trifft Sie wohlauf an etc. etc.
    Ihr ergebenster Diener,
    Pellinore Warthrop.
    Nach der Fertigstellung dieses Briefes verfiel der Doktor in ein mehrminütiges Schweigen. Er stützte sich auf dem Tisch ab, sodass die Schultern fast auf einer Höhe mit den Ohren waren,als er sich über die Karte beugte und auf die Anhäufung der eingezeichneten Punkte starrte, die in schlangenhaftem Zickzack unerbittlich aufs Meer zumarschierten. Dann richtete er sich mit einem schweren Seufzer auf, fasste sich ins Kreuz und fuhr sich nervös mit den langen, blassen Fingern durchs dunkle Haar. Er nahm das Notizbuch in die Hand und studierte seine Berechnungen, wobei er rhythmisch mit dem Ende seines Bleistifts auf die Seite tippte, an der Unterlippe nagte und meine Anwesenheit ein paar Schritt weiter schon wieder vergessen hatte. Diese sonderbare Isolation in seiner Gesellschaft war mir nicht fremd, doch an die Wirkung, die sie auf mich hatte, musste ich mich noch gewöhnen: Es gibt, nach meiner Erfahrung, keine tiefere Einsamkeit, als wenn man vom einzigen Gefährten in seinem Leben nicht beachtet wird. Ganze Tage verstrichen zu solchen Zeiten ohne ein Wort von ihm, selbst wenn wir gemeinsam zu Abend aßen oder Seite an Seite im Laboratorium arbeiteten oder unseren abendlichen Gesundheitsspaziergang entlang der Harrington Lane machten. Wenn er doch mit mir redete, so geschah es selten, um ein Gespräch mit mir anzuknüpfen; vielmehr waren unsere Rollen klar verteilt. Seine war es zu sprechen; meine aufzupassen. Er erging sich; ich lauschte ihm. Er: der Redner; ich: die Zuhörerschaft. Ich lernte schnell, nicht zu sprechen, wenn ich nicht angesprochen wurde; jedem Befehl augenblicklich und ohne Frage zu folgen, egal wie rätselhaft oder scheinbar absurd er war; Gewehr bei Fuß zu stehen gleichsam, als braver Soldat, der seine heilige Ehre einer würdigen Sache weiht, wenngleich es selten der Fall war, dass ich verstand, was genau diese Sache wohl sein mochte.
    Die Sterne verblassten am Himmel; die hartnäckige Herrschaft der Nacht geriet endlich ins Wanken; und noch immer arbeitete der Monstrumologe über seinen Karten und Büchern und Zeitungen, nahm Messungen vor, kritzelte in sein kleines Notizbuch. Bisweilen drehte er sich in heftiger Aufregung vom Arbeitstisch weg, rang die Hände und schlug sich an die Stirn,murmelte leise vor sich hin und ging auf und ab. Er wurde von der Ausübung seiner besonderen Leidenschaft befeuert und von den Tassen schwarzen Tees, die er reichlich konsumierte, sein bevorzugter Trunk während dieser manischen Episoden intensiver geistiger Anstrengungen. In all den Jahren, die ich ihn kannte, habe ich keinen Tropfen Schnaps seine Lippen berühren sehen. Der Doktor missbilligte das Trinken und brachte oft seine Verwunderung über Männer zum Ausdruck, die sich bereitwillig zu Schwachsinnigen machten.
    Als ich beim Herannahen der Morgendämmerung in der Küche stand und die fünfte Kanne Tee bereitete, gönnte ich mir ein paar Bissen alter Kräcker, um meiner erlahmenden Ausdauer Beine zu machen, denn alles, was ich seit dem Erwachen zu mir genommen hatte, waren, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, ein oder zwei hastige Schlucke der gesundheitsschädlichen Suppe, die der Monstrumologe aus Ingredienzien zweifelhafter Herkunft zubereitet hatte. Mein Rücken schmerzte, und jeder Muskel in meinem Körper schwirrte vor Müdigkeit, während ich

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