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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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mich in einem schwerfälligen Nebel herumbewegte; längst hatte sich das Adrenalin, das mich seit unserer Rückkehr vom Friedhof in Gang gehalten hatte, verabschiedet, und ich näherte mich der völligen Erschöpfung. Mit langsamen Gedanken und linkischen Gliedmaßen und dem ausgesprochen verwirrenden Gefühl, ein ungeladener Gast in der vertrauten Behausung meiner eigenen Haut zu sein, trug ich die Kanne in die Bibliothek, wo ich den Doktor so vorfand, wie ich ihn verlassen hatte, in völliger Stille bis auf das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und seine Seufzer – lange, müde und frustriert. Er durchwühlte den Zeitungsstapel, bis er eine bestimmte Zeitschrift fand, die er zuvor bereits durchgelesen hatte. Er studierte den eingekreisten Artikel erneut ein oder zwei Minuten lang, brummte wiederholt dasselbe Wort und legte die Zeitung oben auf den Stapel zurück, um den entsprechenden farbigen Kreis auf der Karte prüfend anzusehen: Dedham.
    »Dedham. Dedham«, murmelte der Monstrumologe. »Also, wieso ist mir dieser Name geläufig?« Er beugte sich über die Karte, bis seine Nase sich ihr bis auf einen Zoll genähert hatte. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Stelle und wiederholte das Wort drei Mal, dieweil sein Finger drei Mal darauf niederfiel. »Dedham.« Tipp . »Dedham.« Tipp . »Dedham.« Tipp .
    Plötzlich richtete er die Schwere seines Antlitzes voll auf mich und rüttelte mich damit aus meiner Starre auf, denn auf einmal existierte ich wieder. Ich war tot gewesen; ich war wiedergeboren. Ich war vergessen gewesen, und in einem Augenblick – seiner Augen Blick – erinnerte sich die Welt wieder an mich.
    »Dedham!«, schrie er und schwenkte die Zeitung über dem Kopf, dass es in der stehenden Luft der staubigen Bibliothek knallte. »Dedham, Will Henry! Ich wusste, dass ich es schon mal gesehen habe! Rasch – geh hinunter in den Keller! Unter der Treppe findest du einen Schrankkoffer, den bringst du mir sofort! Sofort, Will Henry. Mach fix, mach fix !«
    Das erste »Mach fix« war der Gewohnheit geschuldet; das zweite war mit kaum gebändigter Wut geblafft, denn ich machte nicht sofort fix. Ich hatte das erste nicht gehört, denn das Wort »Keller« hatte mich kurzzeitig betäubt – nicht durch seine Lautstärke, sondern durch seine Tragweite –, aber nur ein wirklich tauber Mensch hätte das zweite »Mach fix!« nicht hören können.
    Rasch verließ ich die Bibliothek; langsamer betrat ich die Küche; noch langsamer stieß ich die Tür zur Treppe auf, die eintauchte in schwärzeste Finsternis, auf deren Grund das Monster am Stahlhaken hing und das gläserne Gefäß mit der entsetzlichen Frucht seiner Lenden stand, welche unversehrt und schleimig und sich windend aus dem Bauch des jungfräulichen Gefäßes gezogen worden war, das sie ausgetragen hatte, ein Bankert im albtraumhaftesten Sinne, eine kopflose Masse von Krallen, an denen jetzt schon Menschenblut klebte, mit spindeldürren weißen Armen und einer Brust, die von rasiermesserscharfen Reißzähnen beherrscht wurde, die in ihrer Urgier nach der leeren Luft gebissen und geschnappt und darauf herumgekaut hatten.
    Das Morgenlicht, das mit prächtiger Frühlingsfülle durch die offenen Fenster flutete, ergoss sich über die schmale Treppe, dennoch schien es, als drückte die Dunkelheit an deren Fuß dagegen oder fungierte als Deich, gegen den das Licht brandete und an welchem unnachgiebigen Bauwerk es sich ohnmächtig brach. Das Licht strömte nach unten; die Ausdünstung des toten Anthropophagen quoll nach oben, ein übelkeiterregender Gestank nach fauligem Obst, verbrüdert mit dem unverwechselbaren Geruch der Verwesung. Ich drehte das Gesicht von der Türöffnung weg, atmete tief ein und hielt die Luft an, als ich die Stufen hinabstieg, wobei ich mir mit einer Hand Nase und Mund zuhielt und die andere über die kühle Steinwand streifen ließ. Die verwitterten Dielen ächzten und knarrten unter meinen zitternden Schritten; meine Nackenhaare richteten sich auf; meine Waden kribbelten und fühlten sich taub an, als die Einbildungskraft den klaren Verstand übermannte. Mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller, denn vor meinem geistigen Auge sah ich sie unter der Treppe, wie sie auf allen vieren auf dem schwitzenden Steinboden kauerte, eine kopflose Bestie mit ausdruckslosen schwarzen Augen, die tief in ihren Schultern saßen, und einem Maul, das überlief von Reihen über Reihen von glänzenden Zähnen, der Löwe im Savannenwald, der Hai

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