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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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konnte ihren warmen Atem auf meiner Wange spüren. »Lernst du denn nicht, um ein Wissenschaftler zu werden?«
    »Ich glaube, ich würde mir lieber von einem mongolischen Todeswurm das Fleisch verflüssigen lassen.«
    Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich denke, sie hatte es bis dahin vergessen gehabt. Bevor ich protestieren konnte, zog sie den Verband herunter und legte die Verletzung frei. Ich rührte mich nicht von der Stelle, als ihr Atem nach unten zur Wunde wanderte.
    »Ich glaube nicht, dass ich schon mal einen so großen Wundschorf gesehen habe«, flüsterte sie. Sie fuhr mit dem Finger über die Stelle. »Tut das weh?«
    »Nein. Ja.«
    »Was denn jetzt?«
    Ich antwortete nicht. Ich zitterte. Mir war ganz warm, aber ich zitterte.
    Die Matratze quietschte leise. Ihr Gewicht drückte die Federn zusammen und ließ mich in ihre Richtung kippen. Ihre feuchten Lippen drückten sich auf mein zerstörtes Fleisch.
    »So. Nun bist du geküsst worden.«
    Ich fand schnell heraus, dass Lillian Trumbul Bates unter anderem eine fürchterliche Lügnerin war. Auch wenn sie nicht biss und nur ein kleines bisschen sabberte, war sie eine schreckliche Schnarcherin. Bis ein Uhr nachts war ich so weit, dass ich tatsächlich darüber nachdachte, ihr ein Kissen aufs Gesicht zu legen, um das Geräusch zu dämpfen.
    Dankbar allerdings war ich für meine Kleidung. Im Lauf der Nacht wurde es sehr kalt im Zimmer; ich verlor das Gefühl in der Nasenspitze. Ich glaube, Lilly wurde auch kalt, denn sie rollte sich im Schlaf herum und drückte sich an mich. Der Moment war gleichermaßen beunruhigend wie tröstlich.
    Wir sind mehr, als sich im Gelben Auge widerspiegelt , hatte von Helrung gesagt.
    Während Lilly sich an mir zusammengerollt hatte, starrte ich in die goldene Schräge des Lichts, das von einer Straßenlampe unten auf dem Boulevard kam. Ich stieg zu ihm auf. Ich ging in es hinein. Es gab nichts außer dem goldenen Licht.
    Dann hörte ich den Wind hoch oben. Es gab das Licht, und es gab den Wind. Sonst gab es nichts. Ich konnte den Wind hören, aber ich konnte ihn nicht spüren. Ich schwebte, körperlos im goldenen Licht.
    Da war eine Stimme dort im Wind. Sie war schön. Sie rief meinen Namen. Die Stimme war im Wind, und der Wind war in der Stimme, und sie waren eins. Der Wind und die Stimme waren eins.
    Im leeren Zimmer sitzt meine Mutter und kämmt sich die Haare. Ich bin dort bei ihr, und sie ist allein. Ihr Gesicht ist von mir abgewandt. Ihre nackten Arme sind golden im Licht. Es ist nicht ihre Stimme, die mich ruft. Es ist die Stimme des Windes.
    Der Wind hat eine Strömung wie ein Fluss, der aufs Meer zubraust.
    Sie zieht mich zu ihr hin. Ich kämpfe nicht gegen die Strömung des Windes an. Ich will bei ihr sein in dem leeren Zimmer aus goldenem Licht.
    Dort dreht meine Mutter sich um und blickt mich an. Sie hat keine Augen. Ihr Gesicht ist seiner Haut beraubt worden. Ihre leeren Augenhöhlen sind schwarze Löcher, wo das goldene Licht in die Tiefe gezogen wird und nicht entkommen kann. Es gibt kein Entkommen.
    Der hohe Wind heult. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Wind und meinem Namen, und mein Name hat keinen Anfang und kein Ende.
    Ich falle in den lichtlosen Abgrund der Augen meiner Mutter.
    Aus dem Nichts streckte sich eine Hand aus, packte mich am Kragen und riss mich zurück, weg vom offenen Fenster. Ich kämpfte gegen meinen Retter an, aber er hatte seine langen Arme um mich geschlungen, und jetzt konnte ich seine Stimme hören, nicht die des Windes, die meinen Namen rief.
    »Will Henry! Will Henry …«
    Der Doktor stöhnte leise, als ich mich bis aufs Äußerste anstrengte, um mich zu befreien, ohnmächtig gegen die glatten Bodendielen trat, dem Wind zu antworten versuchte, der uns seinen kalten Atem in die Gesichter seufzte. Ich hörte, wie Lilly immer wieder mit schriller, hysterischer Stimme fragte: »Was ist los? Was ist los ?« Und dann sah ich Dr. von Helrung neben mir knien und eine Lampe dicht an mein Gesicht halten. Er sagte zum Doktor: » Nein, nein , nicht seinen Namen, Pellinore. Sag nicht seinen Namen!« Er gab mir einen leichten Klaps auf die Wange.
    »Sieh mich an!« rief er. »Hör mir zu! Mir ! Es ist vorbeigezogen – fort!«
    Er hatte recht; es war fort. Und ich fing an zu weinen, denn ich fühlte mich so leer ohne es. Scham übermannte mich; ich war gedemütigt. Ich hätte antworten sollen . Der Wind wollte mich, und ich wollte den Wind.
    »Bitte, Pellinore, bitte«, drängte von Helrung

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