Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
den Doktor. Warthrops Griff lockerte sich, und der alte Mann zog mich in seine Arme. Einen legte er mir um die Schulter und drückte mit seiner großen Hand mein Ohr an seine Brust; ich konnte das Schlagen seines Herzes hören. Wie der Wind, auf dem mein Name ritt, braust eine unwiderstehliche Strömung tief in den verborgenen Kammern unserer Herzen, »bis Menschenstimmen uns wecken und wir ertrinken«.
»Ein Traum«, sagte der Monstrumologe. »Eine Halluzination, hervorgerufen von Khorkhoi -Gift und schwerwiegendem physischen und psychischen Trauma.«
»Es ist meine Schuld«, sagte von Helrung mit gepresster Stimme. »Ich hätte das Fenster verriegeln sollen.«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er den Sturz überlebt.«
»Er wäre nicht gestürzt, mein Freund. Oh, wenn das das Einzige wäre, was zu fürchten ist! Es ist wegen ihm gekommen. Wegen ihm! Das darf nicht sein. Wir dürfen es nicht zulassen, Pellinore. Er muss sofort weggeschickt –«
»Mach dich nicht lächerlich!«, fuhr der Doktor ihn an.
»Mit dem ersten Zug nach Boston.«
»Will Henry geht nirgendwohin.«
»Er schwebt in großer Gefahr, sollte er bleiben.«
»Und in größerer, wenn er abreist, von Helrung. Ich bin alles, was der Junge hat, und ich reise nicht ab.«
»Bitte schicken Sie mich nicht fort, Sir«, flüsterte ich. Mein Rachen tat entsetzlich weh, als hätte ich aus vollem Halse geschrien.
»Ich verstehe, Pellinore, aber du musst verstehen, dass es nicht aufhören wird. Es kann nicht aufhören. Es wird ihn rufen, bis es ihn findet – oder er es findet, denn es zwingt ihn jetzt. Wie es die anderen gezwungen hat – Larose, Hawk, Skala und Bartholomew – und Muriel, Pellinore. Denk an Muriel! Möchtest du, dass er dasselbe Schicksal erleidet? Willst du in deiner Halsstarrigkeit tatenlos dastehen und es auch noch Will holen lassen?«
»Ich bin am Ende meiner Geduld mit diesem Wahnsinn. Nichts hat Will Henry ›gerufen‹. Will Henry hatte einen Albtraum, völlig verständlich und sogar vorhersagbar angesichts dessen, was sich in den letzten vierundzwanzig Stunden ereignet hat.«
In einer Geste der Bestürzung warf von Helrung die Hände hoch.
»Augen, die nicht sehen! Ohren, die nicht hören! Ach! Ich dachte, ich hätte dich besser ausgebildet, Pellinore Warthrop! Dann lass es eben außer Acht. Lass alles außer Acht! John ist nicht tot – er ist nicht Outiko . Er ist psychotisch, zum Morden getrieben von den Dämonen, die er in der Einsamkeit gefunden hat, ein Monster zwar, aber ein Monster menschlichen Ausmaßes. Wenn es nicht der Hunger ist, der ihn antreibt, was ist es dann? Warum bemächtigt er sich Muriels, und warum versucht er jetzt, sich Will Henrys zu bemächtigen? Was haben sie gemeinsam, Pellinore? Was ist die eine Sache, die sie gemeinsam haben? Bitte, um der Liebe Gottes willen, gib wenigstens das zu! Nenn es, wie du willst. Nenn es Spinnerei. Nenn es Wahnsinn. Aber dieser Wahnsinn hat Methode. Du weißt, dass das wahr ist.«
»Ich werde denselben Fehler nicht zweimal begehen, Meister Abram. Will Henry wird bei mir sicher sein.«
SECHSUNDZWANZIG
»Er ist gar nicht so anders«
Früh am nächsten Morgen verabschiedete sich Lilly. Sie war zwar mitgenommen von den sonderbaren und beunruhigenden Ereignissen der vorigen Nacht, sich aber auch vollkommen im Klaren über den Plan, die Überbleibsel Dr. John Chanlers zur Strecke zu bringen, und nicht erfreut, von der Jagd ausgeschlossen zu werden. Ihre Unzufriedenheit wurde nicht gerade abgeschwächt durch die Tatsache, dass ich in meinem, wie sie es nannte, »jämmerlichen Zustand« ein vollberechtigter Teilnehmer sein würde.
»Es ist, weil ich ein Mädchen bin«, schmollte sie. »Schau her!« Sie hielt den Zeigefinger hoch und krümmte und streckte ihn in schneller Folge vor meinem Gesicht. »Der kann einen Abzug ebenso gut betätigen wie deiner, Will Henry – besser sogar und wahrscheinlich schneller. Ich hätte auch keine Angst; ich würde geradewegs zu ihm hingehen und ihm das Hirn rauspusten. Es ist mir egal, was für ein menschenfressendes Monster aus ihm geworden ist.«
Ich widersprach ihr nicht. Genau genommen pflichtete ich ihr sogar uneingeschränkt bei, dass sie das Zeug dazu hatte, zu beinah allem hinzugehen und ihm das Hirn rauszupusten. Sie hatte das Herz einer Monstrumologin, so viel stand fest; es traf sich nun einmal so, dass dieses Herz einem Mädchen gehörte.
»Du wirst schon sehen«, versprach sie mir. »Eines Tages werde ich! Ihr
Weitere Kostenlose Bücher