Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Interesse daran haben, ihn bis zur Gerichtsverhandlung am Leben zu halten. Falls von Helrung ihn findet – nun, er hat ja klargemacht, was er zu tun gedenkt, oder? Die Ironie der Lage ist dir nicht entgangen, hoffe ich.«
Nein, versicherte ich ihm. Das war sie nicht.
Langsam ging ich in mein Zimmer und fragte mich dabei, was für eine Art Mensch dieser Monstrumologe war, der seine Aufgabe darin sah, einen Freund zu retten – nicht darin, einen brutalen Killer, der die Frau, die er liebte, abgeschlachtet hatte (»Schändung« war sein Wort dafür gewesen), der Gerechtigkeit zuzuführen. Ach, des Menschen Herz ist finst’rer als die finsterste Grube und besitzt mehr gewundene Wege und verwirrende Kehren als ein Monstrumarium! Je mehr ich über ihn erfuhr, desto weniger wusste ich. Je mehr ich wusste, desto weniger begriff ich.
Ich erschrak, als ich die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnete, denn auf dem Bett saß Lilly Bates, die einen rosafarbenen Morgenrock trug und neben sich ein aufgeschlagenes Buch liegen hatte.
»Entschuldigung.« Ich schickte mich an, rückwärts aus dem Zimmer zu gehen.
»Wo willst du hin?«, wollte sie wissen.
»Ich bin im falschen Zimmer …«
»Sei nicht albern. Das hier ist dein Zimmer. Du solltest heute Nacht bei mir schlafen.« Sie tätschelte die Stelle neben sich. »Falls du keine Angst hast«, neckte sie mich.
»Ich habe keine Angst«, sagte ich mit so viel Bestimmtheit, wie ich aufbringen konnte. »Ich bin es nur gewohnt, allein zu schlafen.«
»Ich ebenso, aber du bist mein Gast. Jedenfalls bist du der Gast meines Onkels, was dich indirekt auch zu meinem Gast macht. Ich verspreche dir, dass ich nicht schnarche und nicht beiße und nur ein kleines bisschen sabbere.« Sie lächelte mich fröhlich an und klopfte noch einmal auf die Bettdecke. »Willst du nicht nahe beim Zimmer des Doktors sein, für den Fall, dass er dich braucht?«
Dieses Argument konnte ich schwer entkräften, und einen Moment lang zog ich in Betracht, zu ihm zurückzugehen und ihn zu fragen, ob ich bei ihm im Bett schlafen dürfte. Aber dann hätte ich ihm erklären müssen wieso, und die Kosten dieser Antwort wären sehr hoch gewesen. Er hätte vielleicht nie mehr die Klappe gehalten und mich schlafen lassen. Mit einem Seufzer schleppte ich mich zum Bett hinüber und setzte mich auf den äußersten Rand.
»Du bist nicht drauf«, klärte sie mich auf.
»Ich bin drauf.«
»Du bist kaum drauf.«
»Kaum ist trotzdem drauf.«
»Wie willst du denn so schlafen? Und du hast noch nicht mal dein Nachthemd angezogen.«
»Ich werde in meinen Kleidern schlafen. Für den Fall eines Notfalls.«
»Was für eines Notfalls denn?«
»Die Art von Notfall, wo man kein Nachthemd tragen darf.«
»Du könntest dich da auf dem Bettvorleger zusammenrollen und wie ein treuer Hund zu meinen Füßen schlafen.«
»Ich bin aber kein Hund.«
»Aber du bist so treu wie ein Hund.«
Innerlich ächzte ich. Welchen Gott hatte ich beleidigt, dass ich das verdient hatte?
»Ich glaube, du wirst eines Tages einen prächtigen Ehemann abgeben, William Henry«, stellte sie fest. »Für eine Frau, die ihren Ehemann gern furchtsam, aber treu hat. Du bist überhaupt nicht von dem Schlag, den ich heiraten werde. Mein Mann wird tapfer sein und sehr stark und groß, und er wird musikalische Neigungen haben. Er wird Gedichte verfassen, und er wird schlauer sein als mein Onkel und sogar dein Doktor. Er wird schlauer sein als Mr. Thomas Alva Edison.«
»Zu schade, dass der schon eine Frau hat.«
»Du kannst ruhig Witze machen, aber denkst du nie darüber nach, was für eine Person du einmal heiraten wirst?«
»Ich bin zwölf.«
»Und ich bin dreizehn – fast vierzehn. Was hat das Alter damit zu tun? Julia hat ihren Romeo gefunden, als sie so alt wie ich war.«
»Und sieh dir an, was aus ihr geworden ist.«
»Tja, du bist schon sein kleiner Lehrling, nicht wahr? Wie, du glaubst nicht an die Liebe?«
»Ich weiß nicht genug darüber, um daran zu glauben oder nicht.«
Sie rutschte übers Bett und brachte ihr Gesicht ganz nah an meins. Ich wagte nicht, den Kopf zu drehen und sie anzusehen.
»Was würdest du genau jetzt machen, in genau diesem Moment, wenn ich dich küssen würde?«
Ich antwortete mit einem Kopfschütteln.
»Ich glaube, du würdest in tiefe Ohnmacht fallen. Du hast noch nie ein Mädchen geküsst, stimmt’s?«
»Nein.«
»Sollen wir meine Hypothese prüfen?«
»Es wäre mir lieber, wenn nicht.«
»Warum nicht?« Ich
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