Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Wind«, sagte der Monstrumologe mit einem geistesabwesenden Blick in den dunklen Augen. »In der absoluten Finsternis der Wildnis ruft eine grausame Stimme deinen Namen, die sehnsuchtsvolle Stimme der Verdammnis, aus der tödlichen Einsamkeit …«
Mich schauderte. Er klang ganz und gar nicht wie er selbst. Ich beobachtete, wie seine Augen hin und her huschten, sein Blick unruhig über die Decke glitt, wo er etwas sah, das zu sehen nicht in meiner Macht stand.
»Man nennt es Atcen … Djenu … Outiko … Vindiko. In einem Dutzend Länder hat es ein Dutzend Namen, und es ist steinalt, Will Henry. Es frisst, und je mehr es frisst, desto hungriger wird es. Es verhungert, noch während es schlingt. Es ist der Hunger, der nicht gestillt werden kann. In der Sprache der Algonkin bedeutet sein Name wörtlich: ›Der die ganze Menschheit verschlingt‹.
Du bist jung«, sagte der Monstrumologe. »Du musst erst nochhören, wie es deinen Namen ruft. Aber von dem Moment an, wo es dich kennt, bist du dem Untergang geweiht. Dem Untergang, Will Henry! Es gibt kein Entrinnen vor ihm. Es ist ein geduldiger Jäger und wird sämtliche Strapazen ertragen, während es darauf wartet zuzuschlagen, wenn du es am wenigsten erwartest, und wenn du erst einmal in seiner eisigen Gewalt bist, gibt es keine Hoffnung auf Rettung. Es trägt dich in unvorstellbare Höhen und stürzt dich in unauslotbare Tiefen. Es zermalmt deine Seele; es bricht deinen Atem entzwei. Und, während es dich frisst, nimmst du an dem Festmahl teil! Jawohl! Während du zu den Himmelspforten emporsteigst, während du in den tiefsten Kreis der Hölle fällst, erfreust du dich an den Qualen, die es dir bringt – du wirst zum Hunger. Im Fliegen fällst du. Beim Schlemmen verhungerst du …«
Der Doktor schöpfte tief Atem. So schwer es auch zu glauben sein mochte, es schien, als seien Pellinore Warthrop die Worte ausgegangen. Ich wartete darauf, dass er weitersprach, indes ich mir den Kopf über seinen kryptischen Vortrag über die Natur des Tiers zerbrach. In einem Atemzug hatte er es einen Mythos genannt, und im nächsten hatte er von ihm gesprochen, als sei es vollkommen real. Du bist jung. Du musst erst noch hören, wie es deinen Namen ruft. Was bedeutete das? Was musste erst noch meinen Namen rufen?
Im Zimmer war es stickig und warm – der Doktor lehnte es ab, selbst in der heißesten Nacht, bei offenen Fenstern zu schlafen, eine Angewohnheit, die höchstwahrscheinlich normal war unter Monstrumologen –, und unter meinem Nachthemd hatte ich zu schwitzen begonnen. Obwohl seine Augen auf die Zimmerdecke geheftet blieben, hatte ich das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Meine Nackenhaare stellten sich auf, und mein Herz schlug schneller. Etwas war da, gerade außerhalb meines Gesichtsfelds, körperlos und heißhungrig.
»Sie hat recht, weißt du«, sagte er leise. »Ich bin eitel und rachsüchtig, und ich war immer ein bisschen in den Tod verliebt. Vielleicht habe ich sie verloren, weil das das eine war, was sie mirnicht geben konnte. Daran hatte ich nicht gedacht. Es ist schwer, Will Henry, sehr schwer, über jene Dinge nachzudenken, über die wir nicht nachdenken. Eines Tages wirst du das verstehen.«
Er rollte sich auf die Seite und kehrte mir den Rücken zu.
»Jetzt mach das Licht aus und geh ins Bett. Wir brechen morgen früh nach Rat Portage auf.«
Ich zog mich in meine kleine Dachkammer zurück, wo ich mich noch eine Stunde oder länger hin und her warf und in nichts Tieferes als einen unruhigen, flüchtigen Dämmerschlaf sinken konnte. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass etwas gerade außerhalb der Peripherie meines Blickfelds lauerte, dass etwas in der Dunkelheit war und dass etwas meinen Namen kannte.
Ich sah Muriel im Regen stehen, ein Traumbild, das aus schöpferischer Erinnerung aufstieg, wie ihr graues Schultertuch vor Wasser glänzte, wie das Licht über ihre nassen Wimpern huschte, das Öffnen ihrer Lippen, als sie mich in der Tür stehen sah, und Verwunderung und Bestürzung erfüllen mich.
Plötzlich ist sie weg, und ich bin am Bett meiner Mutter, wo ich zu ihren Füßen sitze und ihr zusehe, wie sie sich die langen Haare kämmt, und irgendwo im Zimmer ist mein Vater, aber ich kann ihn nicht sehen, und das goldene Licht schimmert im kastanienbraunen Haar meiner Mutter. Ihre Füße sind nackt und ihre Handgelenke dünn und zerbrechlich, und der hypnotische Rhythmus der Bürste bringt das Licht dazu, sich in perfekte Reihen zu
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